Agiles Management
„Intern gibt es die Rolle des Vorstandsvorsitzenden nicht“
Der Finanzdienstleister Dr. Klein hat alte Hierarchien über Bord geworfen und setzt stattdessen auf die Organisationsstruktur der Holakratie. Vorstandsvorsitzender Michael Neumann über Machtverlust, effizientere Meetings und die Abkehr vom kleinsten gemeinsamen Nenner.
Michael Neumann
Michael Neumann wurde 1975 in Fürth geboren. Seit Juli 2016 ist er Vorstandsmitglied der Hypoport-Tochterfirma Dr. Klein Privatkunden AG.
Vor knapp drei Jahren haben Sie die Organisationsstruktur Ihres Unternehmens umgestellt – auf die Holakratie. Was bedeutet das? Und warum ist Dr. Klein diesen Schritt gegangen?
Michael Neumann: Holakratie ist eine andere Form der Zusammenarbeit innerhalb der Organisation, mit dem Ziel des selbstorganisierten Arbeitens. Die sichtbarste Veränderung ist eine andere Form der Hierarchie: Es ist eine Abkehr von der klassischen Pyramide im Taylorismus, also dass die Führungsetage alles bestimmt, während die anderen arbeiten. In der Holakratie nehmen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Rollen ein und treffen Entscheidungen. Dadurch wird dort entschieden, wo die meisten Informationen vorliegen.
Sind Sie also nur Vorstandsvorsitzender auf der Visitenkarte?
Neumann: Intern gibt es die Rolle des Vorstandsvorsitzenden nicht. Ja, wir haben die Rolle des Vorstands. Dabei geht es aber hauptsächlich um das Repräsentieren nach außen und in Richtung unseres Gesellschafters. Meine Kollegen und Kolleginnen aus dem Vorstand und ich haben noch andere Rollen, in denen wir unterschiedlichste Dinge verantworten.
Was ist der Vorteil der Rollen?
Neumann: Die Transparenz. Durch das Handeln in diesen Rollen entsteht Klarheit und eigenverantwortliches Agieren. Die Frage ist immer: Aus welcher Rolle agiert man gerade? Welches Ziel oder welchen Purpose verfolgt man? Die Devise lautet nicht mehr: Ich muss das umsetzen, weil es mein Chef so will. In der Holakratie ist prinzipiell alles erlaubt, wenn es nicht explizit verboten ist. Dieses System schafft also große Freiheiten, hat auf der anderen Seite aber nichts mit Anarchie zu tun. Denn es gibt sehr klare Regeln, welche die Zusammenarbeit in der Organisation betreffen. Sie sind in einer mehr als 40 Seiten starken Verfassung festgehalten.
Warum haben Sie die Holakratie bei Dr. Klein eingeführt?
Neumann: Es ist ein Invest in die Zukunftsfähigkeit von Dr. Klein. Wir haben nicht aus der Not heraus gehandelt, sondern aus einer Position der Stärke. Denn wir sind ein erfolgreiches Unternehmen mit wachsenden Marktanteilen. Die Arbeitswelt wird sich auch in den kommenden Jahren rasant verändern. Die Dynamik nimmt zu. Darauf haben wir uns proaktiv vorbereitet. In Zukunft werden wir es seltener mit wiederkehrenden Problemen zu tun haben, bei denen wir die Lösung bereits kennen. Es wird künftig immer komplexere Problemstellungen geben, bei denen wir die Herausforderungen vielleicht nicht bis ins letzte Detail verstehen. Die Holakratie setzt den Rahmen, Dinge schnell auszuprobieren, iterativ vorzugehen und kleinste Veränderungen an der Organisation agil und schnell vornehmen zu können.
Funktioniert das Prinzip heute genauso, wie Sie es sich vor drei Jahren vorgestellt haben?
Neumann: Meistens wurden unsere Erwartungen noch übertroffen. Zum Beispiel bei den Meetings: Sie laufen jetzt deutlich strukturierter und effizienter ab. In einem Teil der Meetings arbeitet man in der Organisation und im anderen Teil an der Organisation, also an der Governance. Das sorgt für eine enorme Geschwindigkeit. Das fällt mir immer wieder auf, wenn ich an nicht-holakratisch organisierten Meetings anderer Organisationen teilnehme. Das ist wie eine Zeitreise in die alte Welt. Außerdem schafft die Holakratie das Streben nach einem Konsens ab. Für jeden Vorschlag gilt die Grundsatzfrage: Ist es gut genug, um damit zu starten? Bei Einwänden wird geprüft, ob sie integriert werden müssen oder nicht. Bei einem klassischen Meeting geht es oft darum, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Innovationen werden so oft verwässert. Das wird bei uns komplett ausgehebelt.
Sie haben also viele kleine Diktaturen geschaffen?
Neumann: Keine Diktaturen, aber Autokratien. Letztlich trifft jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter in seiner Rolle autokratische Entscheidungen.
Ein Unternehmer sagte uns kürzlich: „Der Versuch eine Unternehmenskultur aktiv zu gestalten ist so sinnvoll, wie Pudding an die Wand zu nageln.“ Wie gut hat bei Ihnen der Kulturwandel funktioniert?
Neumann: Offen gesagt: Von Begeisterung bis Ablehnung war alles dabei. Das ist jedoch bei jedem größeren Change-Projekt der Fall. Wichtig ist, die Widerstände, die an der einen oder anderen Stelle entstehen, auch konstruktiv aufzunehmen. Wir haben viel in unterstützende Workshops investiert, um ein breiteres Verständnis in der Organisation zu schaffen. Talente profitieren heute davon, dass ihnen niemand in ihre Entscheidungen reinfunken kann. Das sind positive Erfahrungen. Wir haben uns kulturell weiterentwickelt.
Wie sind Sie die Umstellung angegangen?
Neumann: Wir haben Holakratie aus dem Lehrbuch und nach dem Top-down-Prinzip eingeführt. Damit haben wir grundsätzlich gute Erfahrungen gemacht. Deswegen kann ich dieses Vorgehen empfehlen. Zunächst haben wir die Meetings im Management-Board nach holakratischen Regeln abgehalten und dadurch über viele Monate Erfahrungen gesammelt. Danach haben wir beschlossen, es im das gesamten Unternehmen anzuwenden. Wir haben uns Schritt für Schritt herangetastet und uns dabei sehr stark an der Verfassung orientiert.