Der Worst Case beim Recruiting: Man verwendet viel Zeit darauf, eine Kandidatin beziehungsweise einen Kandidaten zu finden – und nach kurzer Zeit verlässt sie oder er das Unternehmen wieder, weil das Versprochene nicht zur Realität passt. Wie lassen sich solche bösen Überraschungen vermeiden?
Mark Astley: So simpel es klingen mag: Man sollte als Unternehmen im Recruiting-Prozess nichts behaupten, was später nicht eingehalten werden kann. Authentisch und ehrlich zu sein ist das A und O. Bewerbende dürfen nicht unterschätzt werden. Sie spüren genau, wenn die Gegenseite in gefällige Phrasendrescherei verfällt. Deswegen halte ich es für zielführender, wenn vorhandene Schwachstellen und Verbesserungspotenziale von Beginn an offen und transparent thematisiert werden. Daher haben auch die Try-Out-Phasen einen hohen Stellenwert in unserem Unternehmen, da wir den Bewerbenden Rede und Antwort zu ihren Fragen stehen und sie nach diesem Probetag besser verstehen, was sie anschließend erwarten wird.
Kein Unternehmen ist von A bis Z perfekt. Das wissen Bewerbende auch. Lebt man jedoch an diesem Punkt bereits Transparenz vor und reflektiert, an welchen Stellen Optimierungsbedarf besteht und wie man diese Herausforderungen in Zukunft gestalten möchte, verschafft dies eine besondere Vertrauensebene und Platz für eigene Ideen der Bewerbenden. Unternehmen schlagen so zwei Fliegen mit einer Klappe. Bewerbende fühlen sich direkt eingebunden – und noch wichtiger: Missverständnisse werden durch den offenen Umgang von Anfang an vermieden. Die Erwartungshaltungen auf beiden Seiten abzugleichen zählt definitiv zu den wichtigsten Aufgaben des Recruitings. Außerdem kann natürlich der bereits erwähnte Probetag und damit der Einblick in die Unternehmenspraxis dazu beitragen, schnelle Abgänge zu vermeiden.
Wichtig ist zudem: Gut Ding will Weile haben. Auch wenn Fachkräfte stark umkämpft sind, sollte ein Unternehmen sich nicht vom Druck, neue Mitarbeitende einstellen zu müssen, dazu verleiten lassen, eher weniger geeignete Personen einzustellen. Denn eine erhöhte Fluktuation in den Abteilungen erschwert und verlangsamt die Arbeit der bestehenden Teams, die sich in kürzester Zeit auf neue Kolleginnen und Kollegen einstellen und diese einarbeiten müssen.
Nach welchen Kriterien wählen Angestellte heute ihren Arbeitgeber aus?
Astley: Es muss Unternehmen bereits in den Gesprächen und im Auswahlverfahren gelingen, die Kultur, die Denk- und Arbeitsweise des Betriebs transparent offenzulegen. Für Angestellte sind natürlich weiterhin Faktoren wie die Höhe des Gehalts und die Anzahl der Urlaubstage von großer Bedeutung, aber mittlerweile gewinnen auch Gesichtspunkte wie flexible Arbeitszeiten, Remote Work, eine ausgewogene Work-Life-Balance sowie die Sinnhaftigkeit der Arbeit eine immer größere Bedeutung bei der Wahl des Arbeitgebers.
Wie sieht eigentlich die optimale Candidate-Journey aus?
Astley: Sehr wichtig ist das Tempo, in dem der Bewerbungsprozess durchgeführt und im Optimalfall mit einer Vertragsunterzeichnung abgeschlossen wird. Die meisten potenziellen neuen Angestellten haben mittlerweile mehrere Bewerbungen parallel laufen, um zum einen ihre Chance zu erhöhen, aber vor allem auch um direkte Vergleiche ziehen zu können und Angebote abzuwägen. Unternehmen müssen sich bewusst machen: Die Konkurrenz schläft nicht, denn alle Unternehmen wollen die besten Talente für sich gewinnen. Deswegen sollte der Recruiting Prozess umgehend ins Rollen gebracht werden, sobald die Verantwortlichen eine potenziell geeignete Kandidatin oder einen potenziell geeigneten Kandidaten ausfindig gemacht hat.
Beinhaltet der Prozess ein mehrstufiges Verfahren, muss dieses auch an zeitnahen Terminen durchgeführt werden. Dadurch wird das Risiko gering gehalten, dass die Bewerbenden bei einem anderen Unternehmen landen. Die Kandidatinnen und Kandidaten bekommen darüber hinaus das Gefühl, umworben zu werden und wirklich gewollt zu sein. Außerdem sollte darauf geachtet werden, dass die Bewerbenden sich mit allen Schlüsselpersonen für einen erfolgreichen Werdegang beim Unternehmen austauschen können. So sammeln beide Seiten verschiedene Eindrücke und können sich entsprechend auch ein umfassenderes Bild von der künftigen Zusammenarbeit machen.
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Welche Fehler machen Unternehmen beim Recruiting immer wieder?
Astley: Als allererstes dürfen wir nicht vergessen, dass wir es mit Individuen zu tun haben, denen unterschiedliche Dinge wichtig sind, die unterschiedliche Backgrounds haben und unterschiedliche Ziele im Berufsleben verfolgen. Deshalb muss das Recruiting-Team – trotz notwendiger Einheitlichkeit des Einstellungsprozesses – auf die individuellen Bedürfnisse, Wünsche und Bedenken aller Bewerbenden eingehen. Wer das Gefühl vermittelt bekommt, nur eine Nummer unter vielen zu sein, wird sich mit Sicherheit fragen, ob das Unternehmen im Arbeitsalltag genauso mit den Angestellten umgeht. Es kann also entscheidend dafür sein, ob der oder die Bewerbende das potenzielle neue Job-Umfeld in Betracht zieht oder eher infrage stellt.
Ein weiterer großer Fehler, den viele Unternehmen machen, ist unzureichende Kommunikation im Bewerbungsprozess. Gerade bei längeren Verfahren muss unbedingt darauf geachtet werden, dass der regelmäßige Austausch mit der Kandidatin oder dem Kandidaten nicht vernachlässigt wird. Andernfalls können bei Bewerbenden schnell Zweifel aufkommen, ob das Unternehmen wirklich interessiert ist. Es könnte auch der Eindruck entstehen, dass in dem jeweiligen Betrieb grundsätzlich unkommunikativ oder gar unkoordiniert und ineffizient gearbeitet wird.
Was empfehlen Sie Unternehmen, die beim Recruiting mal neue Wege gehen und sich vom klassischen Einstellungsprozess verabschieden wollen? Welche Recruitingmaßnahmen sind erfolgversprechend?
Astley: Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es sich lohnt, Zeit und Ressourcen in vielversprechende Bewerbende zu investieren. Deswegen sollte das Unternehmen den Prozess nicht ausschließlich nach Schema F Punkt für Punkt abhaken. Natürlich sind Informationen zum Werdegang, zur Motivation hinter dem Wechselwunsch, zu vorherigen Stellen und den vorhandenen Fachkenntnissen dabei unabdingbar. Genauso prüfen aber die Kandidatinnen und Kandidaten das Unternehmen auf Herz und Nieren, das sich also auch auf gewisse Art und Weise bewerben muss. So sollten – im Sinne größtmöglicher Authentizität und Transparenz – die Bewerbenden die Möglichkeit erhalten, dem Team auf den Zahn zu fühlen.
Des Weiteren besteht grundsätzlich oft ein eklatanter Unterschied zwischen „über etwas sprechen“ und „wie sieht es eigentlich in der Realität aus“. Was ich damit meine: Das Unternehmen sollte sich nicht einzig mit möglichst blumigen Worten verkaufen, sondern dies am besten im Recruitingprozess auch belegen.
Wie kann das in der Praxis gelingen?
Astley: Ich empfehle, Bewerbende nach erfolgreichen Erstgesprächen zum Probearbeiten einzuladen. Dabei sollte es nicht nur darum gehen sollte, die Fähigkeiten der potenziellen neuen Angestellten zu testen, sondern auch darum, dass diese den Berufsalltag ihres möglichen neuen Teams miterleben können. Unser Ziel ist es, den Bewerbenden mithilfe dieser Try-Outs ein Gefühl für die Kultur des potenziellen neuen Arbeitsplatzes zu vermitteln. Zudem können sie so die anderen Teammitglieder kennenlernen und konkrete Fragen hinsichtlich der Aufgaben und Arbeitsweise klären. Wir nehmen in diesem Prozess auch ganz bewusst einen Rollentausch vor, in dem die Bewerbenden die Chance haben uns als Unternehmen zu interviewen.
Dieser Part sollte grundsätzlich auf das jeweilige Team, die Situation und die Bedürfnisse der Kandidatin beziehungsweise des Kandidaten abgestimmt sein. Das bedeutet, dass der Zeitraum nicht zwingend einen ganzen Arbeitstag umfassen muss. Er kann auch zwei Tage oder nur einige Stunden in Anspruch nehmen kann. Und dieser Prozess kann natürlich auch remote stattfinden.
Sie beziehen also Mitarbeitende im Recruitingprozess in die Auswahl neuer Kollegen ein?
Astley: Aus meiner Sicht sollte das Einbeziehen der Meinung der aktuellen Belegschaft fester Bestandteil des Prozesses sein. Natürlich verfügt das Recruiting-Team über die fachliche Expertise, diesen Prozess abzuwickeln und zu koordinieren. Daran sollte sich auch nichts ändern. Am Ende des Tages ist es jedoch essentiell, dass die bestehenden Teams auch mit neuen Mitgliedern harmonieren. Da es sich dabei um Individuen handelt, die täglich miteinander zu tun haben werden, sollten sie sich auch im Vorfeld kennenlernen und austauschen können. Die Bedeutung des zwischenmenschlichen Gefüges für die Zusammensetzung erfolgreich und effektiv arbeitender Teams darf nicht unterschätzt werden.
Recruiting-Teams müssen sich bewusst sein, dass es eine große Entscheidung mit viel Verantwortung ist, jemanden einzustellen. Wir nehmen dadurch nicht nur erheblichen Einfluss auf das Leben und die Zukunft der neuen Mitarbeitenden, sondern auch auf das ihrer oder seiner Familie und Freunde. Daher ist es umso wichtiger, dass sich Unternehmen und Bewerbende gleichermaßen füreinander entscheiden.