Im Hintergrund stapeln sich Bücher. Viele Bücher. Nicht wenige von ihm selbst geschrieben – Kishore Mahbubani liest nicht nur viel, sondern schreibt auch viel. „Has China won?“ heißt sein neustes Werk. „Hat China gewonnen?“ 800 Exemplare muss der international als Bestsellerautor gefeierte Professor für Politikwissenschaft aus Singapur gerade unterschreiben, erzählt er im DUB Business Talk via Zoom. Kein Wunder: Mahbubani hat viel zum Thema zu sagen, war Diplomat, ist bis heute blendend vernetzt – und ein ebenso messerscharfer Analyst wie brillanter Erzähler.
Buchautor Kishore Mahbubani im Interview
Amerikas größte Fehler
Hat China die USA im wirtschaftlichen Wettstreit längst hinter sich gelassen? Nein, sagt Kishore Mahbubani. Das Rennen der Systeme ist noch offen, so der Diplomat, Professor für Politikwissenschaft und gefeierte Buchautor. Und die Amerikaner können es gewinnen – vorausgesetzt, die USA befassen sich mit zwei ungewohnten Gedanken: mit der Gefahr zu verlieren und der Gefahr massiver innerer Konflikte.
21.08.2020
Bei der Lektüre Ihres Buches „Has China won?“ hatte ich nach der letzten Seite den Eindruck, das Reich der Mitte habe den Wettstreit mit den USA bereits für sich entschieden. Warum setzen Sie in Ihrem Titel ein Fragezeichen dahinter?
Kishore Mahbubani: Es ist wirklich nur der Beginn eines geopolitischen Wettbewerbs zwischen den USA und China. Wir haben gerade erst die ersten Runden dieser Auseinandersetzung gesehen. Das wird noch eine ganze Weile dauern. Denn kein Land der Welt gibt seine Macht freiwillig auf! Es wäre daher viel zu früh zu sagen, China habe gewonnen.
Eine zentrale Frage ist sicher, wie aggressiv China den Wettstreit um die Poleposition betreibt?
Mahbubani: China versucht, Kriege zu vermeiden, will keine Marine-Basen in der Welt anlegen. Aber das Land will stark und respektiert sein. Es braucht also einen globalen Fußabdruck, und das reduziert den US-Einfluss. China ist nicht expansionistisch, wird nichts erobern. Peking hat beispielsweise schon längst die Unterstützung für kommunistische südostasiatische Länder eingestellt. Aber der Einfluss des Landes wird sich ausdehnen. Und die Geopolitik ist ein Nullsummenspiel – gewinnt der eine, verliert der andere. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Thailand ist ein enger Verbündeter der USA. Das war auch früher schon so. Damals war der amerikanische Botschafter die Nummer eins in Bangkok, heute ist es der Botschafter aus China. Und der aus den USA? Die Nummer drei oder vier. Die Amerikaner spüren das. Das ist für sie ein Dilemma – was ist wichtiger für die langfristigen Ziele, das Wohlergehen der Menschen oder das Primat des geopolitischen Einflusses? Das Land hatte zuletzt in einer unipolaren Welt gelebt, das ist nun vorbei. Dieser Wechsel ist für Amerika eine psychologische Herausforderung. Dabei sollte man sagen: Egal, wenn du nicht mehr den Top-Botschafter in Thailand stellst. Ich mache es mal deutlich: Als wir unser Gespräch begonnen hatten, war bildlich gesprochen eine kleine Katze im Raum bei mir. Nun ist es ein Tiger – da benehme ich mich natürlich anders. Wir alle müssen uns anpassen, aber was ist falsch daran? Wir müssen miteinander reden, denn China ist zum Dialog bereit.
Mit welcher Intention haben Sie ein Buch mit diesem Titel geschrieben?
Mahbubani: Um Amerika zu helfen. Denn die umgekehrte Frage des Titels lautet ja: Kann Amerika verlieren? Diese geistige Haltung ist dort undenkbar; immerhin hat Amerika jede erdenkliche Herausforderung für sich entscheiden können. Den Ersten Weltkrieg, den Zweiten Weltkrieg, den Kalten Krieg – alles gewonnen. Amerika hat nie verloren. Doch etwas hat sich geändert: Der Wettbewerber, nämlich China, ist über 4.000 Jahre alt, hat eine viermal so große Bevölkerung, das ist eine ganz andere Größenordnung. Amerika könnte also verlieren – und sollte genau diesen Gedanken auch zulassen. Dies ist ein großer Fehler des Landes: anzunehmen, man würde immer gewinnen. Die Chinesen ihrerseits sagen sich: Wir könnten verlieren, das ist durchaus möglich – aber lasst uns das ernst nehmen! Meine Frage an Amerika lautet also: Warum denkt ihr nicht strategisch? Mit Blick auf China sagte der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger einmal, der größte Fehler der USA sei der Mangel an einer China-Strategie.
Wie kommt es, dass Chinas Regierung inzwischen so stark ist?
Mahbubani: Es gab eine Phase der schwachen Führung. Damit einher ging mehr Korruption, aber auch mehr Freiheit für jeden Einzelnen. Doch das hat sich geändert. Es sind sehr kluge Menschen in der Regierung, die sehr diszipliniert arbeiten. Ich habe neulich mit einer Chinesin gesprochen, die bedauerte, nicht die beste Absolventin ihrer Schule gewesen zu sein, sondern nur die zweitbeste. Denn Ersteres hätte ihr den Zugang zur Kommunistischen Partei eröffnet. Die Frage indes ist: Wie wird diese strikte politische Linie bei der eigenen Bevölkerung bewertet? Die Antwortet lautet: Sie unterstützt den Kurs, auch jene zehn oder meinethalben 50 unteren Prozent. Viele Diskussionen konzentrieren sich auf die obersten zehn Prozent einer Gesellschaft, die unteren 50 Prozent dagegen werden vergessen. Diese 50 Prozent in China litten lange unter Chaos, doch das hat sich nun geändert. Das zeigen auch die sozialen Daten, etwa die zur Kindersterblichkeit oder zum Zugang zu Bildung. Das kann man von den USA nicht sagen.
Wie sieht es im Vergleich dazu in Amerika aus?
Mahbubani: Ich habe eine sehr erfolgreiche Bekannte, die in New York arbeitet. Neulich sagte sie mir: „Kishore, wir leben in Angst. Präsident Trump wird das Ergebnis der Wahl nicht akzeptieren. Wenn es ein knapper Sieg von Joe Biden ist, kommt es zum Bürgerkrieg – und wir können es nicht verhindern.“ Können Sie sich das vorstellen? Wenn man also vergleicht, was in China und in den USA geschieht, vor allem für die genannten 50 unteren Prozent der jeweiligen Gesellschaft, wird deutlich, dass es für diese Gruppe in China nach oben ging und in Amerika leider nach unten. Und wir reden noch nicht einmal über den Anteil der Bevölkerung, vor allem der schwarzen Bevölkerung, im Gefängnis.
Sie haben Ihr Buch geschrieben, kurz bevor Corona sich verbreitete. China hat das Virus vergleichsweise schnell eindämmen können. Nun wütet es vor allem auch in den USA. Hilft die Covid-19-Pandemie China in diesem Wettstreit?
Mahbubani: Lassen Sie mich eines betonen: Die Schlacht gegen Covid 19 ist noch nicht vorbei. Und Sie wissen ja, mitten in der Schlacht sieht man nur den Nebel des Krieges. Daher wäre es ein großer Fehler, jetzt schon zu urteilen, wer Gewinner oder Verlierer ist. Amerika zum Beispiel hat die besten Universitäten, die weltbesten Research-Institute. Es wäre also denkbar, dass die Amerikaner eine Wunderimpfung entwickeln. Das wäre ein großer Coup für das Land, das damit seinen Ruf in der Welt verbessern würde. Doch Stand heute gibt es keine Zweifel, dass China mit der Krankheit viel besser umgeht. Lassen Sie mich eine Zahl nennen: die der Toten pro Million Einwohner. In China liegt sie etwas unter zehn, in den USA irgendwo zwischen 600 und 700. Warum ist das so? China hat in gewisser Weise die meritokratischste Regierung der Welt geschaffen, also auf Fähigkeiten basierend. Und das in jedem Ministerium; es sind alles sehr fähige Menschen, die gut und diszipliniert miteinander arbeiten. Diese Arbeit führt dazu, dass das Leben der Menschen sich verbessert – und stärkt die Unterstützung für die Regierung in der Bevölkerung. Covid 19 zeigt also, dass Chinas Regierung eine der kompetentesten der Welt ist. Und wie steht Amerika da? Man hat dort die Politik demoralisiert. Das ist auch ein Faktor im Wettstreit zwischen den USA und China.
Die USA haben zuletzt unter Außenminister Mike Pompeo ein „clean network“ angeregt, ein Netzwerk ohne chinesische Technologie, und wollen viele Staaten zum Mitmachen anregen. Sehen Sie darin eine Rückkehr von amerikanischer Führung?
Mahbubani: Ich denke, die ganze Welt wäre froh darüber, wenn die USA wieder ein Leuchtfeuer für die Welt werden würden, eine Führungsgröße! Ich erinnere ja noch John F. Kennedy, habe als Kind in Singapur die Schwarz-Weiß-Bilder der amerikanischen Häuser mit zwei Autos davor gesehen. Ich wäre sehr froh, wenn Amerika diese Rolle wieder einnehmen würde. In meinem Buch habe ich ein Kapitel geschrieben mit dem Namen „Die Tugend-Annahme“. Amerika nimmt an, es sei die tugendhaftere Gesellschaft. Steve Walt ist ein Harvard-Professor und sagt, die Amerikaner gingen davon aus, dass sie die „strahlende Stadt auf dem Hügel“ seien – aber er sagt auch, dass diese Annahme unglücklicherweise nicht wahr sei. Die Welt ist viel klüger geworden, viel nachdenklicher. Wie kann da der Präsident der größten Macht der Welt keine Maske tragen! Das ist verrückt! Wie viele Leben hätten gerettet werden können, hätte er eine Maske getragen und die Menschen wären ihm gefolgt? Das ist das, was Präsidenten tun sollten. Das ist so grundsätzlich. In China ist das Tragen der Maske selbstverständlich. Wie kann man da ein Leuchtfeuer der Welt sein! Amerikas politisches Kapital einfach ist gesunken, etwa nach dem völlig unnötigen Irakkrieg. Fünf Billionen Dollar hat das Land ausgegeben, um Kriege nach den 9/11-Anschlägen zu führen. Und das in Zeiten, in denen das Durchschnittseinkommen der unteren 50 Prozent der Bevölkerung über die vergangenen Jahrzehnte gesunken ist. Wenn das Geld nicht ausgegeben worden wäre, um islamische Länder zu bombardieren: Das wäre ein Scheck für jeden dieser Amerikaner der unteren Gesellschaftshälfte über 30.000 Dollar gewesen! Viele Menschen haben derzeit nicht einmal 400 oder 500 Dollar Notfallreserve. Die Daten zeigen also, dass etwas ernsthaft schiefgegangen ist. Und als Freund des Landes sage ich: Liebe Nummer eins, wenn du wirklich das Leuchtfeuer der Welt sein willst, löst diese Probleme.
Was bedeutet dieser Befund für den Umgang mit dem Riesenland China? Haben Sie einen konkreten Ratschlag für den Westen?
Mahbubani: Für das Ausland heißt das: Unterschätzt China nicht, aber dämonisiert das Land auch nicht. Und die USA sollten nicht voraussetzen, immer zu gewinnen.
Sie sprechen viel von den USA und von China. Welche Hoffnung gibt es für Europa?
Mahbubani: Sehen Sie, es gibt auf der Welt drei große wirtschaftliche Elefanten. Das sind die USA und China, aber eben auch Europa. Als dritte Partei könnte Europa eine balancierende Rolle spielen. Europas Stärke liegt darin, dass es keine Bedrohung ist – es hat beispielsweise kein großes Militär. In meinen Augen liegen in dieser Rolle große Möglichkeiten. Gerade die nordeuropäischen Staaten mit ihrer Balance aus wirtschaftlichen Fähigkeiten und Wohlfahrt, das könnte ein Modell für die Welt sein. Dazu müsste sich allerdings der europäische Ansatz ändern: Es wird in Europa viel über den Brexit gesprochen oder wie viel Geld nach Italien fließen soll – aber nur wenig darüber, was im Rest der Welt vorgeht. Da braucht es mehr strategische Disziplin.
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