Es war nur eine unauffällige Meldung, die kürzlich über die Ticker lief: „Amazon testet Lieferroboter bei Seattle“. Und doch könnte sie der Vorbote einer weiteren Revolution sein, die zur Angriffstaktik des Konzerns und seines Masterminds Jeff Bezos passen würde wie die Faust aufs Auge. „Scout“ heißt der Roboter. Er sieht aus wie eine himmelblaue Kühlbox auf sechs Rädern und soll Bestellungen genau dann zum Kunden bringen, wenn der zu Hause ist. Und zwar auf die Minute genau.
Neu ist die Technologie nicht. Das Start-up Starship Technologies aus Estland beispielsweise baut schon seit Jahren rollende Paketlieferanten und testet sie unter anderem in den USA und Deutschland. Bei den Esten dürfte die Meldung dennoch für Panik sorgen. Und nicht nur bei ihnen. Verliert jeder Paketbote seinen Job, wenn Amazon seine Roboterarmee losschickt? Mag utopisch klingen. Aber ausgeschlossen ist nichts. Nicht in der Welt von Bezos.
Die Macht des Imperiums
Buchhändler, Logistiker, Cloudanbieter, die Betreiber von Einkaufsmeilen können ein – trauriges – Lied davon singen, wie es ist, wenn Amazon Ernst macht und seine schiere Größe und Finanzkraft ausspielt. Bezos hat aus dem Buchversand ein Imperium geschmiedet, das seinesgleichen sucht und in immer neue Geschäftsbereiche vorstößt. Er hat Amazon zum wertvollsten Unternehmen der Welt – Börsenwert zwischenzeitlich eine Billion Dollar – gemacht. Und er wurde zum reichsten Mann. Laut „Forbes“-Magazin beträgt sein Vermögen knapp 160 Milliarden Dollar – die Scheidung von seiner Frau MacKenzie ist dabei noch nicht berücksichtigt. Zudem entwickelte er sich zum gefürchtetsten Manager des Planeten.
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Wie ist ihm dieser beispiellose Aufstieg gelungen? Was treibt ihn an? Wie geht er vor? Und vor allem: Was können Unternehmer von ihm lernen? Wie groß die Macht Amazons ist, zeigen folgende Zahlen: „44 Prozent der amerikanischen Haushalte haben eine Schusswaffe, und 52 Prozent haben Amazon Prime“, stellte der US-Marketing-Guru Scott Galloway bereits 2017 fest.
Von jedem Dollar, den Amerikaner im Online-Handel ausgeben, kassiert Amazon knapp die Hälfte, schätzt der Datendienstleister Rakuten Intelligence. In Deutschland ist die Dominanz ähnlich, zeigt eine Studie der Universität Sankt Gallen. Andere Schätzungen gehen sogar von einem Marktanteil von bis zu 77 Prozent aus. Der Aktienkurs ist seit dem Börsengang um das 96.500-Fache gestiegen (siehe Grafik in Teil 2). International kann allenfalls die chinesische Plattform Alibaba dem Konzern noch das Wasser reichen. Im Weihnachtsgeschäft 2018 verdiente Amazon so viel Geld wie nie zuvor in einem Quartal.
Wie reagiert Bezos? Kein stolzer Kommentar, keine verbalen Streicheleinheiten. Er setzt andere Prioritäten. „Wenn Freunde mir zu einem erfolgreichen Quartal gratulieren, antworte ich: Danke, daran habe ich vor drei Jahren gearbeitet. Zurzeit beschäftige ich mich mit den Ergebnissen für 2021“, verriet Bezos im September dem „Forbes“-Magazin. Auch sein Führungsteam, das Senior- oder kurz S-Team, arbeitet zwei bis drei Jahre in der Zukunft. In die Untiefen des Tagesgeschäfts lässt sich Bezos nur selten herab. Beschwerde-Mails soll er einfach an seine Mitarbeiter weiterleiten – nur versehen mit einem Fragezeichen. Die Lehre für andere Unternehmer: Das operative Geschäft konsequent an andere delegieren, um an der Zukunft des eigenen Unternehmens zu arbeiten.
„Was ist das Internet?“
Ob er auch bei der Gründung Amazons vor 25 Jahren mit seinen Plänen der Zeit ein paar Jahre voraus war? Fest steht: Einen Masterplan, um das Unternehmen zu dem zu machen, was es heute ist, gab es 1995 nicht. Mit Anfang 30 ging Bezos das wohl größte Wagnis seines Lebens ein. Er – Sohn einer alleinerziehenden Mutter im Teenageralter, bekennender „Star Trek“-Fan und Computer-Nerd – hatte sich mit einem Princeton-Abschluss in der Tasche bis zum Vizepräsidenten einer Investmentbank hochgearbeitet.
Seiner damaligen Frau MacKenzie, die er dort kennengelernt hatte, erzählte er von seiner Idee: einem Online-Buchhandel. „Was ist das Internet?“, soll sie gefragt haben. Doch rasch hatte er sie von Produkt und Kanal überzeugt. Warum ausgerechnet Bücher? Weil es in dieser Branche mehr Produkte gab als in jeder anderen, verriet Bezos bei einem Besuch in Berlin 2018. Mehr als drei Millionen Bücher seien damals auf dem Markt gewesen. Doch selbst die größten Buchhandlungen hatten maximal 150.000 Exemplare auf Lager. Wollte er also das größte Angebot der Welt schaffen, mussten es Bücher sein. Nur so konnte seine Erfolgsformel „Sortiment ist gleich Wachstum“ aufgehen.
Diese Gleichung ist Teil des legendären Amazon-Geschäftsmodells „Circle of Growth“, das Bezos einst auf eine Serviette gemalt haben soll. Schnell feiert das Start-up Amazon Erfolge als Nischenanbieter. Doch statt „nur“ der weltgrößte Buchhändler zu sein, legt Bezos erst so richtig los: 1998 erweitert er das Sortiment um CDs und DVDs. Kurze Zeit später folgen Spielzeug, Elektronik, Möbel und vieles mehr. Dabei nutzt Amazon die aus dem Buchhandel bewährten Systeme in der Lagerhaltung oder beim Online-Shop. Aus dem Buchhandel wird „The Everything Store“, das Geschäft für alles.
Zwei strategische Entscheidungen fallen besonders ins Gewicht. Erstens: Bezos setzt von Anfang an konsequent auf die Daten der Amazon-Nutzer – wohlgemerkt seit Mitte der 1990er-Jahre. Sie werden zum Fundament seines Erfolgs. Jeder Klick auf dem Webshop wird verfolgt und fließt in neue Empfehlungen ein, um den Absatz anzukurbeln. Seine Erfahrungen von der Wall Street, als er Algorithmen für die Investmentbank entwickelte, dürften dem brillanten Informatiker sehr nützlich gewesen sein. Während andere Unternehmen allenfalls halbherzig den Kunden zum König ausrufen, fordert er eine „obsessive Kundenorientierung“. Für ihn steht fest, dass Kunden immer „wunderbar unzufrieden“ sind – auch wenn sie selbst es gar nicht wissen.
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Es ist das „Day one“-Mantra, das er gebetsmühlenartig wiederholt. Für sein Unternehmen ist jeder Tag der erste Tag, denn dann strotzt es nur so vor Energie und Tatendrang. Tag zwei dagegen bedeute „Stillstand, gefolgt von Irrelevanz, gefolgt von entsetzlichem, qualvollem Niedergang, gefolgt von Tod“, schrieb Bezos 2017. Den Vorschlag eines Verlegers, nur positive Kundenrezensionen auf der Website zu veröffentlichen, schlägt er in den Wind. „Am Ende helfen negative Kritiken den Herstellern, ihre Produkte weiter zu verbessern“, so Bezos.
Die zweite sehr bemerkenswerte strategische Entscheidung: Die Eröffnung des Amazon-Marktplatzes 2000. Mit diesem Schachzug gelang es ihm, jede noch so winzige Lücke in seinem Sortiment zu schließen, ohne selbst Risiken in Kauf nehmen zu müssen. Das übernahmen andere Händler, die ihre Produkte über Amazon anbieten. Auf die „Amazonierung des Konsums“ folgt die „Amazonierung der Hersteller“, analysiert Eva Stüber vom Institut für Handelsforschung Köln (IFH). So ist Amazon heute nicht nur das größte Online-Kaufhaus der Welt, sondern auch Produktsuchmaschine Nummer eins. Hersteller müssen auf Amazon zu finden sein. „Begegnen Konsumenten auf ihrer Customer-Journey, die auch immer häufiger direkt bei Amazon startet, der Marke nicht, wird sie im Relevant Set auch nicht berücksichtigt“, so Stüber.
Inhalt
- Teil 1: Was Unternehmer von Bezos lernen können
- Teil 2: Amazon's Zukunft
Und ganz nebenbei stellt Bezos mit dem Marktplatz seinen Glauben an die Plattformökonomie unter Beweis. Er macht das Wissen, das er in einem Bereich (Bücher, CDs & Co.) gesammelt hat, anderen Bereichen auch außerhalb des Unternehmens (externe Händler) zugänglich und baut so noch mehr Marktmacht auf. Bezos hat sich also nicht auf seinem Erfolg ausgeruht, sondern das, was gut funktioniert, als Blaupause für andere Geschäftsfelder genutzt – das Gegenteil von Silodenken.
Ein noch eindrucksvolleres Beispiel ist Amazon Web Services (AWS). Schon früh erkennt Bezos die Vorteile von Clouddiensten für Amazon und baut eine riesige Infrastruktur auf. Und nachdem er die Technologie erfolgreich innerhalb des Unternehmens etabliert hat, öffnet er das Angebot. Heute ist AWS Weltmarktführer vor Microsoft und Google. Auf die schier endlosen Serverkapazitäten setzt Netflix genauso wie die NASA oder auch die CIA. Die Sparte wächst rasant, ist hochprofitabel und spült so Milliarden in Amazons Kasse. Von 7,4 Milliarden Dollar Umsatz blieb im vierten Quartal 2018 ein Profit von 2,2 Milliarden Dollar – eine Marge von annähernd 30 Prozent. Ein fast schon astronomischer Wert, verglichen mit der geringen Gewinnspanne im Handel.
Gewinnmaschine Cloud
Mit der Gewinnmaschine Cloud unter der Haube kann Bezos die Drehzahl von Amazon weiter hochschrauben. „Wachstum vor Gewinn“, lautete schon seit Langem seine Devise. In neue Geschäftsbereiche investiert er so lange, bis er dank massiver Größenvorteile Produkte billiger anbieten kann als die Konkurrenz.
Dass es bei diesem Expansionstempo auch Fehltritte gab, leugnet Bezos nicht. Die Fire-Phones beispielsweise lagen wie Blei in den Regalen. „Damals hatten wir keine Erfahrung als Hardwarehersteller“, erklärte Bezos dem „Forbes“-Magazin. Doch trotz interner Kritik hielt er an dem Plan fest, solche Produkte selbst zu fertigen. „Manchmal braucht es eben Zeit, bis man die Früchte ernten kann.“ 2015 zahlt sich seine Geduld aus: Der Amazon Echo, der erste smarte Lautsprecher mit dem Sprachassistenten Alexa, kommt auf den Markt. Ein echter Game-Changer. „In ihrer Rolle als Gatekeeper können Sprachassistenten entscheiden, welches Produkt von welchem Händler bestellt werden soll“, mahnt Stephan Tromp, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland. Schätzungen zufolge nutzte im vergangenen Jahr bereits eine Milliarde Menschen Sprachassistenten, Tendenz stark steigend. Dass Bezos für seine Vision kämpft und nicht beim ersten Rückschlag klein beigibt, hat sich also mehr als bezahlt gemacht.
Die spannende Frage lautet: Wo schlägt Amazon als Nächstes zu? Beim Ziel, den Kunden alles aus einer Hand anzubieten – also der vertikalen Integration –, ist der Konzern weit fortgeschritten, angefangen bei der Bestellung via Sprache (Alexa) über die Lagerhäuser und die Auslieferung (Amazon Logistics) bis hin zur Bezahlung (Amazon Pay). Unter anderem verfügt Bezos über die fünftgrößte Frachtflugzeugflotte. Und spätestens beim Bestellen der Weihnachtsgeschenke dürfte vielen Deutschen aufgefallen sein, dass Amazon die Pakete auch selbst zustellt – obwohl diese Aufgabe bislang noch ein Zulieferer aus Fleisch und Blut und nicht eine Drohne (erster erfolgreicher Testflug Dezember 2016) oder ein Roboter übernimmt.
Doch damit nicht genug. Der Konzern lockt seine Kunden auch zu sich. Genauer gesagt in die Amazon-Go-Shops. 2016 wurde das erste stationäre Geschäft in Seattle eröffnet, bis 2021 sind 3.000 Läden in den USA geplant. Im vergangenen Weihnachtsgeschäft gab es für eine Woche einen Pop-up-Store in Berlin. Das Besondere an den Läden: Sie haben keine Kasse. Kameras und Sensoren erfassen, welche Produkte aus den Regalen genommen werden. Sie landen automatisch in der Kasse der Smartphone-App. Was sich wie Ladendiebstahl anfühlt, zeigt, wozu Amazon im Bereich Künstliche Intelligenz und Internet of Things inzwischen fähig ist. Und es liefert Bezos noch mehr von seinem Lieblingsrohstoff: Daten.
Amazon als Krankenkasse?
Aber auch bei der horizontalen Integration hat Bezos viele heiße Eisen im Feuer: Prime-Kunden können Musik und Videos zu Kampfpreisen streamen. Das Werbegeschäft wird auf Hochtouren ausgebaut, womit Amazon in direkte Konkurrenz zu Google und Facebook tritt. Mitte Februar schluckte der Konzern den WLAN-Spezialisten Eero und macht Ikea mit zwei eigenen Möbelmarken Konkurrenz. Und mit der Übernahme der Online-Apotheke Pillpack im Juni 2018 könnte der Startschuss zum Angriff auf den Gesundheitsmarkt gefallen sein.
Wenige Monate zuvor hatte Amazon bereits mit der größten US-Bank JPMorgan Chase sowie Berkshire Hathaway, der Beteiligungsgesellschaft des Star-Investors Warren Buffett, eine Krankenkasse für Mitarbeiter gegründet. Offiziell nannte Bezos die horrenden Gesundheitskosten in den USA als Grund für die Kooperation. Wer auf die Zwischentöne achtet, kann sehr wohl die Ambitionen des Projekts erahnen. „Unser Ziel ist es, Lösungen zugunsten unserer US-Angestellten, ihrer Familien und – möglicherweise – aller Amerikaner zu finden“, deutete Partner und JPMorgan-Chef Jamie Dimon an.
Vielleicht wird es auch in Deutschland eines Tages die Amazon-Krankenkasse geben. Schließlich ist nichts ausgeschlossen. Nicht in der Welt von Jeff Bezos. Allerdings werden auf beiden Seiten des Atlantiks momentan Verfahren wegen Wettbewerbsmissbrauchs geprüft. Ironie der Geschichte: Am Ende könnte Bezos nur der eigene Erfolg im Weg stehen.
„Viele Unternehmen haben begrenzte Märkte. Wir nicht.“ Jeff Bezos
Was Jeff Bezos inspiriert
Bücher sind Amazons Keimzelle. Sie prägen den Ausnahmeunternehmer nachhaltig und liefern ihm Ideen für neue Geschäfte.
- Kazuo Ishiguro: The Remains of the Day. Obwohl Bezos-Biograf Brad Stone („The Everything Store“, 2014) schreibt, dass sich der Amazon-Gründer mehr von Geschichten als von Sachbüchern inspirieren lasse, ist dies der einzige Roman unter seinen Lieblingsbüchern. Das 1989 veröffentlichte Werk des Literaturnobelpreisträgers handelt von Pflichterfüllung.
- Sam Walton: Made in America. In seiner 1992 erschienenen Autobiografie beschreibt der Walmart-Gründer die Prinzipien des Discount-Einzelhandels und die eigenen Werte: Einfachheit und den Drang, vieles auszuprobieren ohne Angst vor Fehlern. Diese Werte hat Bezos in seine Firmenphilosophie integriert. Das Buch ist mehrfach auf Deutsch erschienen.
- Nassim Taleb: The Black Swan. Der Bestseller aus dem Jahr 2008 handelt vom zweifelhaften Wert von Vorhersagen angesichts folgenschwerer Ereignisse, für die es keinerlei Anzeichen gegeben hat – beispielsweise die weltweite Finanzkrise.
Inhalt
- Teil 1: Was Unternehmer von Bezos lernen können
- Teil 2: Amazon's Zukunft