Jubiläum

220 Jahre Tourbillon: Extrem komplexe Kunst

Auch 220 Jahre nach seiner Erfindung durch Abraham Louis Breguet ist das Tourbillon eines der zentralen Themen der Haute Horlogerie, der hohen Schule der Uhrmacherei. Und es birgt neues Potenzial.

25.05.2021

Zum Wesen des Luxusprodukts gehört, dass es vielleicht von Nutzen ist, aber nicht nötig. Auf das Tourbillon, eine der raffiniertesten Vorrichtungen im Uhrenbau, trifft das in besonderer Weise zu: technisch heute nicht mehr notwendig, hat es seine Bedeutung längst gewandelt und gesteigert. Vor 220 Jahren meldete Abraham Louis Breguet, Feinuhrmacher und genialer Erfinder, eine Vorrichtung zum Patent an, mit der die Taschenuhren seiner Zeit genauer laufen konnten: Aufrecht in der Westen- oder Hosentasche getragen, schwang deren Unruh unter dem Einfluss der Schwerkraft ungleichmäßig. Breguet ließ die Hemmung in einem kleinen Käfig rotieren, um den Einfluss der Gravitation zu egalisieren.

Spät ins Rampenlicht

Ein Tourbillon („Wirbelwind“) ist ein komplexer und zugleich möglichst leichter Mechanismus; das macht ihn fragil und teuer. So entstanden bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nur wenige Uhren mit dieser Vorrichtung – und kaum noch eine, nachdem sich die Armbanduhr durchgesetzt hatte; schon weil die am Handgelenk mehr bewegt wird und dem Lagefehler dadurch – theoretisch – entgeht. Erst in der Renaissance der mechanischen Uhrmacherei in den 1980er-Jahren trat das Tourbillon richtig ins Rampenlicht. 1988 rüstete Breguet eine Armbanduhr zu Ehren des Manufaktur-Gründers mit einer rotierenden Hemmung aus, gut sichtbar durch das geöffnete Zifferblatt.

Ein viertel Gramm

Bald wurde der Mechanismus, dessen Bewegungen für den Laien im ersten Augenblick ganz unerklärlich wirken, zum Inbegriff höchster uhrmacherischer Expertise auch bei anderen Manufakturen. Anthony de Haas, Leiter der Produktentwicklung bei A. Lange & Söhne, erklärt, warum: „Ein Tourbillon besteht aus über 80 Einzelteilen, die in der Summe gerade einmal ein viertel Gramm wiegen. Vor allem das Auswuchten des Tourbillons erfordert sehr viel Fingerspitzengeühl.“ Und das wird nicht in der Uhrmacherschule vermittelt.

Auch bei Vacheron Constantin entstehen Tourbillons in einem besonderen Atelier und unter den Händen herausragender Spezialisten. Christian Selmoni, Director Style and Heritage des Genfer Traditionshauses, sagt: „Im Durchschnitt sind etwa zehn Jahre Erfahrung mit einfacheren Werken erforderlich, um sich für unser Tourbillon-Team zu qualifizieren.“ Zwar helfe heute ein moderner Maschinenpark bei der Herstellung winziger Bauteile, aber das Tourbillon sei unter Connaisseurs auch ein Gradmesser für die Hightech-Kompetenz einer Manufaktur. 

Forschung ist von zentraler Bedeutung

„Die Komplikation ist eine fantastische Basis für Forschung und Entwicklung“, sagt Selmoni, „und dass die Arbeit daran als Formel 1 der Feinuhrmacherei gilt, fasziniert natürlich.“ Vacheron Constantin beherrscht unter anderem den Bau mehrachsiger Tourbillons, deren Käfige planetengleich im Raum rotieren.

De Haas bestätigt die Bedeutung der Forschungsarbeit: „Uhrenkenner interessieren sich in erster Linie für konstruktive Weiterentwicklungen, welche die Funktion verbessern und die kreative Kompetenz der Manufaktur widerspiegeln.“ Ein solcher Fortschritt gelang A. Lange & Söhne 2008 mit dem Sekundenstopp für das Tourbillon. Mehr als 200 Jahre nach dessen Erfindung war es damit erstmals möglich, die Unruh im Inneren des rotierenden Tourbillon-Käfigs zum Synchronisieren der Uhr unmittelbar anzuhalten – und beim Drücken der Krone sofort wieder anschwingen zu lassen.

Dezenter Luxus

Breguets Konzernschwester Glashütte Original wiederum pflegt eine eigene Tourbillon-Tradition: die
des „Fliegenden Tourbillons“, das 1920 vom Meisteruhrmacher Alfred Helwig in Glashütte entwickelt wurde. Nur auf einer Seite gelagert, scheint es sich frei im Raum zu bewegen. Umso erstaunlicher, dass das Unternehmen mit der „Alfred Helwig Tourbillon 1920“ zuletzt eine der wenigen Uhren vorgestellt hat, deren Tourbillon auf der Vorderseite nicht zu sehen ist. Die meisten ihrer Kunden schätzten exklusiven, dezenten Luxus, heißt es in der Manufaktur, und eben an die richte sich die „Alfred Helwig“. Immerhin: Mit der Inschrift „Tourbillon“ auf der Sekundenanzeige werde subtil darauf hingewiesen, dass der Zeitmesser seine ganze Raffinesse nicht auf den allerersten Blick offenbare.

Experimente mit dem Erbe

Während inzwischen fast alle Spitzenmanufakturen der Haute Horlogerie Werke mit Tourbillon in der Kollektion haben, sind es vor allem die jüngeren Marken, die mit dem Erbe technisch wie gestalterisch mutig experimentieren. Hublot zum Beispiel, Bulgari mit der Integration eines Tourbillons in das weltweit flachste Automatikwerk, oder Greubel Forsey, deren schräg gestellte Doppel- und Vierfach-Tourbillons zum Markenzeichen wurden.

Benjamin Freisfeld, Inhaber traditionsreicher Juweliergeschäfte in Münster und Hamburg, sieht in dieser Entwicklung einen besonderen Wert: „Für eine Weile haben sich das Sportuhren-Thema und die Entwicklungen hin zu widerstandsfähigen Werken in den Vordergrund geschoben. Inzwischen sind die Uhren besser und präziser, als sie es jemals waren.“ 

Daneben gebe es nach wie vor die Sehnsucht nach klassischer Uhrmacherkunst, auch bei Jüngeren: „Die sind begeistert vom Prinzip der Nachhaltigkeit und energetischen Autonomie; das erleben wir in den Geschäften.“ Nur seien diese nächsten Kunden nicht mit dem Thema Tourbillon aufgewachsen. „Dabei hat es das Potenzial einer besonderen Faszination. Weil es mit dem Thema Gravitation und Rotation astronomische Grundprinzipien erlebbar macht“, so Freisfeld.

Erfolgsmodell von Roger Dubuis im neuen Look

Nun sei es an den großen Marken, dem eine ansprechende Form zu geben und den Mechanismus zeitgemäß weiterzuentwickeln. „Das ist zum Beispiel Bulgari und Hublot ganz ausgezeichnet gelungen. Und ich freue mich auf weitere Tourbillons, die unter anderem Breguet als Erfinder des Mechanismus für das Jubiläumsjahr angekündigt hat.“

Nach mehreren spektakulären Neuerscheinungen 2020 hielt sich Breguet zuletzt mit seinen Modellen zum Tourbillon-Jubiläum noch bedeckt und die Spannung der Sammler hoch. Das gibt auch Raum für eine andere Nachricht: Roger Dubuis hat sein Erfolgsmodell „Excalibur Single Flying Tourbillon“ gründlich überarbeitet. Das kurvige Design ist jetzt kantiger, das Räderwerk so effizient konstruiert, dass die Gangreserve gesteigert werden konnte. Der Tourbillon-Käfig schließlich besteht nun unten aus leichtem Titan – um Gewicht zu sparen für den oberen Teil aus Kobaltchrom. Das ist nicht nur amagnetisch, sondern lässt sich besonders ansprechend schwarz polieren. Eben einfach schönster Luxus.