Es ist die 140.000.000.000 Euro-Lücke: Allein die 30 Unternehmen im deutschen Leitindex Dax sitzen auf ungedeckten Pensionszusagen in Höhe von 140 Milliarden Euro. Diese Zahl, die das Beratungsunternehmen Willis Towers Watson errechnet hat, basiert auf den Bilanzen von 2019 – aktuellere Werte liegen noch nicht vor. Sie zeigt also noch nicht den Effekt der Coronapandemie. Doch so viel scheint schon jetzt sicher: Die Kluft dürfte sich eher noch vergrößert haben.
Und wenn in der Beletage der deutschen Unternehmen ein Milliardenloch bei den Pensionsverpflichtungen klafft, wie ist es dann um die Altersvorsorge von Selbstständigen bestellt, die kleine und mittelgroße Firmen leiten? „Es sieht düster aus im Mittelstand“, warnt Sven Tänzer. Der Deutschland-Vertriebschef der eGroup spricht Klartext bei der DUB Digital Week: „Viele Geschäftsführer werden kurz vor ihrer Rente merken, dass es vorn und hinten nicht reicht.“ Besonders die Direktzusagen – eine weit verbreitete Variante der betrieblichen Altersvorsorge (bAV) – seien „in der Breite unterfinanziert“.
Sprengstoff für die Gesellschaft
Das Problem: Die viel zu hohen Zinserwartungen, auf denen die Pensionszusagen beruhen. „Ende der 90er-Jahre lag die Gesamtverzinsung noch bei 6 bis 7 Prozent“, sagt Steffen Kühn, Spezialist für Belegschaftsversorgung bei der Signal Iduna Versicherung. Aktuell beträgt der vom Bundesfinanzministerium festgelegte Garantiezins 0,9 Prozent. Ab 2022 soll er laut der Deutschen Aktuarvereinigung auf 0,25 Prozent abgesenkt werden. Hinzu kommt die demografische Entwicklung: Weil die Lebenserwartung steigt, muss das Geld im Ruhestand immer länger reichen.
Es ist eine Situation, die Sprengstoff für die Gesellschaft bietet: „Die historisch niedrigen Zinsen treiben den Finanzbedarf für die bestehenden Altzusagen mit ihren hohen Leistungsversprechen auf bislang nicht geahnte Höchststände. Das führt zu einer erheblichen Mittelverlagerung zu Lasten der jüngeren Generationen“, sagt auch Friedemann Lucius, Chef des Instituts der Versicherungsmathematischen Sachverständigen für Altersversorgung. Dieser Generationenkonflikt dürfe nicht erst in zehn bis 15 Jahren gelöst werden, sonst entstünden „uneinholbar große Versorgungslücken“.
Und damit nicht genug. Denn viele Unternehmer haben sich schlichtweg noch gar nicht mit dem Thema Altersvorsorge beschäftigt. „In der Praxis fehlt häufig der entscheidende Impuls. Es ist enorme Überzeugungsarbeit nötig“, sagt Tobias Bailer, geschäftsführender Gesellschafter der pension solutions group. Er räumt ein, dass auch die Finanzbranche daran Schuld trägt. „In der Vergangenheit wurden die komplexen Produkte durch unqualifizierte Mitarbeiter verkauft. In der Masse ist in Deutschland ziemlich viel schiefgelaufen.“
„bAV ist Lichtjahre von einer einfachen Struktur entfernt“
Das hat auch die Politik erkannt und mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz zuletzt eine Reform der bAV auf den Weg gebracht. Doch die Zwischenbilanz nach knapp drei Jahren sieht eher mau aus: „Der große Knall ist ausgeblieben“, stellt Signal-Iduna-Mann Kühn fest. „Die bAV ist Lichtjahre von einer einfachen Struktur entfernt “, kritisiert Tänzer. Unisono fordern die Experten: Altersvorsorge muss einfacher werden.
Doch wie sehen Lösungen aus? Wonach sollten Unternehmer ihre Altersvorsorgestrategie ausrichten? „Jeder muss das Thema Vorsorge selbst in die Hand nehmen“, sagt Andreas Gilgen, der das Portfoliomanagement bei der Bank Alpinum leitet. „Langfristiges Ansparen ist die einzige Lösung. Letztlich entscheidet die dritte Säule, also die private Vorsorge, über den Wohlstand im Alter.“ Dass es dabei seiner Meinung nach nicht ohne Aktien geht, zeigt der Kapitalmarktexperte anhand eines einfachen Rechenbeispiels: „Wer heute 1 Million Euro in deutsche Staatspapiere investiert, hat bei einer Realinflation von 1,3 Prozent nach 20 Jahren nur noch 765.000 Euro Kaufkraft übrig.“
Einfache Lösung nicht in Sicht
Unternehmer dürfen sich nichts vormachen: Das eine Produkt, das alle Probleme löst, gibt es nicht. „Es kommt darauf an, alle Bausteine zu nutzen und sie regelmäßig zu überprüfen“, empfiehlt Bailer. Gerade bei der Versorgung der Geschäftsführer werde allzu häufig weggeschaut. Zudem sollte die Altersvorsorge so gestaltet werden, dass sie nicht in die Insolvenzmasse fallen kann. „Es kommt auf eine gründliche Analyse an und auf die Ehrlichkeit gegenüber sich und dem Unternehmen“, sagt Tänzer.
Einen großen Handlungsbedarf sehen die Experten bei der Politik. „Die Altersvorsorge in Deutschland ist dringend sanierungsbedürftig“, sagt Tänzer. Viele europäische Nachbarländer seien längst stärker auf kapitalgedeckte Modelle mit höheren Aktienquoten und einer stärkeren Beteiligung von Unternehmen umgestiegen. „Der Gesetzgeber sollte die Garantien in der zweiten Schicht der Altersvorsorge lockern, um mehr Kapital in Sachwerte zu lenken“, fordert Kühn.
Aber auch die Anbieter müssen sich wandeln. „Wir müssen uns der Frage stellen, wie wir die Kosten dauerhaft senken können. Wenn die Renditen nicht zu erwirtschaften sind, müssen die Strukturen smart werden“, sagt Tänzer. Die Digitalisierung biete die Gelegenheit dazu. „Keine Dienstreisen, digitale Lösungen für Administration und Vertrieb – auch dadurch lassen sich die Ablaufleistungen erhöhen.“ Keine Frage: Den Unternehmern würde das helfen, die Vorsorge-Lücken zu schließen.