Digitalkunst

Mike Hager: „Wir sind bei NFTs auf dem Stand von Bitcoin 2011“

Non-Fungible Tokens, kurz NFTs, erzielten 2021 Millionengewinne am Kunstmarkt. 2022 bescherte bis zu 90 Prozent Verluste. NFT-Experte Mike Hager erklärt den Hype um die digitalen Echtheitszertifikate auf der Blockchain, spricht über Chancen für Unternehmen und darüber, was zur Massentauglichkeit fehlt.

12.12.2022

Als Mike Hager Anfang 2021 das erste Mal von Non-Fungible Tokens (NFTs) hörte, war er verblüfft. Die Idee, mit NFTs Echtheitszertifikate für digitale Dateien auf der Blockchain abzubilden und damit Güter (Tokens) wie zum Beispiel Digitalkunst, Musik oder Filme zu Unikaten zu machen, begeisterte ihn. Wenngleich die Technologie selbst den versiertesten Digital-Nerds in seinem Bekanntenkreis fremd war.

Wer einen NFT mintet, also auf der Blockchain entstehen lässt, erwirbt die Besitz- und manchmal sogar die Verwertungsrechte – und kann meistens über eine hinterlegte Gebühr auf den Marktplätzen an jedem Weiterverkauf mit bis zu zehn Prozent mitverdienen. Bei Monets Werk „Les Meules“, das SAP-Gründer Hasso Plattner 2019 für rund 110,7 Millionen Euro kaufte, hätten die Erben des französischen Malers somit bis zu 11,07 Millionen Euro erhalten. Gehandelt werden NFTs auf Plattformen wie OpenSea oder Rarible vorwiegend auf der Ethereum-Blockchain und über deren Währung Ether.

Hager gilt als Deutschlands versiertester NFT-Experte, bietet Mentorings an, ist international hervorragend vernetzt und hat selbst eine millionenschwere Sammlung. Dazu zählen zum Beispiel zehn Bored Apes aus der berühmten Serie „Bored Ape Yacht Club“ sowie drei „CryptoPunks“. Mit seinem Buch „Reich werden mit NFTs“ hat der ehemalige Radiomoderator ein Basiswerk verfasst, das ein Bestseller wurde; 2023 soll eine Fortsetzung erscheinen.

Unser Videogespräch findet Anfang November 2022 statt, am Vorabend seines USA-Trips. In Atlanta will er neue NFT-Projekte initiieren. Hager meldet sich aus Bayern – seine beiden Markenzeichen stechen direkt hervor: das breite Lächeln und die rote Kappe mit einem Hahn auf der Vorderseite.

Mike Hager

ist NFT-Experte sowie Autor des Buchs „Reich mit NFTs“ und Herausgeber des ersten NFT- Magazins. Darin bietet er Basiswissen, Praxisanleitungen und Insights aus der Szene an. Zuvor war er Radiomoderator bei Antenne Bayern und wurde durch seine Rolle als Josef Nullinger in der Comedysendung „Die Nullingers – eine schrecklich fette Familie“ bekannt

Wann haben Sie Ihren letzten NFT erworben?

Mike Hager: Das war ein Werk namens „Rinascita“ für 0,49 Ether vom italienisch-dominikanischen Künstler Stefano Contiero, einer festen Größe im Generative-Art-Bereich. Ich liebe seine Kunst sehr und es war das fehlende dritte Teil eines Triptychons; die anderen beiden Teile, „Essenza“ und „Frammenti“, besaß ich schon.

Der NFT „Everydays – The First 5.000 Days“ von Beeple wurde 2021 für 69,3 Millionen US-Dollar gekauft. Warum investiert jemand so viel Geld in eine JPEG-Datei?

Hager: Man muss zwischen Ausgabe und Investition unterscheiden. Eine Investition hat stets eine Rendite zum Ziel – so wie bei Aktien oder Immobilien. Warum investiert also jemand über 69 Millionen US-Dollar in eine Collage von 5.000 Bildern? In diesem Fall vermutlich, weil er die Technologie hinter dem Kunstwerk als disruptiv identifiziert hat und wahrscheinlich ein Kunstliebhaber ist, der schlichtweg ein historisches Werk aus der Anfangszeit dieser Strömung seiner Sammlung hinzufügen möchte.

Viele Menschen, darunter auch Kunstjournalist Kolja Reichert, empfanden die Investition als sinnlos.

Hager: In der Kunstwelt haben immer schon eigene Gesetze geherrscht. Millionenbeträge für Werke von René Magritte oder einen Monet stellt auch niemand infrage, obwohl erst mal nur ein Stück Leinwand an der Wand hängt. Entscheidend ist doch immer die Geschichte hinter dem Kunstwerk oder dem Urheber – egal ob NFT oder Gemälde. Mittlerweile entstammen viele NFTs auch der Kreativität der traditionellen Kunst. Vormals analoge Künstler wie der Brite Damien Hirst haben einen NFT gemacht, Musikerinnen wie Grimes verkaufen so ihre Songs oder Quentin Tarantino Filmschnipsel. Und die großen Auktionshäuser wie Sotheby’s oder Christie’s versteigern bedeutende NFT-Werke wie die „CryptoPunks“.

Nur war das Kunstwerk schnell das dritterfolgreichste eines noch lebenden Menschen in der gesamten Kunsthistorie.

Hager: Wenn wir ausschließlich über Zahlen und Summen sprechen, müssen wir den speziellen Kontext beachten. Der Käufer hat das Werk 2021 in Ether gekauft, als der Wechselkurs noch sehr hoch war und bei circa 4.000 US-Dollar lag. Er gilt als Frühinvestor in Kryptowährungen und dürfte deshalb auch schon früh Ether erworben haben, als dessen Preis noch zwischen neun und 200 Dollar lag. Also hat er am besagten Tag zwar rund 69 Millionen US-Dollar für das Beeple-Werk zu dem entsprechenden Ether-Gegenwert gezahlt, aber wahrscheinlich hat es ihn aufgrund des früheren Kurswerts der Kryptowährung nicht tatsächlich so viel gekostet. Aber: Er hätte das Geld auch gegen 69 Millionen Dollar tauschen und damit ein paar andere schöne Sachen kaufen können; er hat sich jedoch für ein Werk von Mike Winkelmann alias Beeple entschieden.

Kritiker werfen dem Markt eine Wildwest-Mentalität vor. Fehlen klare Regeln für kryptobasierte Assets?

Hager: Diese Wildwest-Mentalität stimmt teils. Es gibt genauso sinnvolle Projekte wie auch verschwenderische, die keinen Nutzen haben. Wir dürfen aber nicht so tun, als gäbe es gar keine Regeln. In fast jedem Land gibt es entsprechende Gesetze. In Deutschland zum Beispiel muss man Kryptowährungen mindestens ein Jahr lang halten, um den Gewinn nach einem Verkauf steuerfrei behalten zu dürfen – das gilt auch für NFTs. Alle Transaktionen sind transparent auf der Blockchain einsehbar, was für Bargeld oder viele Kontobewegungen nicht gilt. Es geht eher darum, wie sich der Staat mit welchen Ressourcen und Kapazitäten aufstellt, um den Überblick zu behalten. Die Möglichkeiten zur Rückverfolgung sind jedenfalls gegeben.

Was fasziniert Sie persönlich an NFTs?

Hager: Mich begeistert die Möglichkeit, an etwas teilzuhaben, das vielleicht größer und revolutionärer als das Internet sein könnte. Als Jeff Bezos 1994 Bücher über das Internet verkaufen wollte, hatten die meisten Menschen nicht mal einen Internet-Anschluss und waren skeptisch. Heute besitzen auch die wenigsten eine Wallet zur Aufbewahrung der NFTs. Wer sich aber schon jetzt intensiv damit beschäftigt und an diesem Langzeitprojekt mitwirkt, sammelt einen enormen Wissensvorsprung an. Das zahlt sich dann in zehn bis 15 Jahren aus, wenn NFTs und Blockchain im Alltag implementiert und völlig neue Berufsfelder entstanden sind. Davon mal abgesehen habe ich die tollste, hilfsbereiteste und smarteste Community getroffen, mit der ich im Digitalbereich je zu tun hatte.

Sie sind selbst ein NFT-Enthusiast der (fast) ersten Stunden. Welches NFT-Projekt haben Sie zuletzt selbst realisiert?

Hager: Eines habe ich gemeinsam mit dem österreichischen Fotografen Rainer Hosch und meinem Geschäftspartner Alexander Sachs konzipiert. Er ist auf ikonische Fotografien spezialisiert und hat in seinem Studio in Los Angeles die größten Stars unserer Zeit abgelichtet, darunter zum Beispiel George Clooney im Rahmen seiner Nespresso-Werbepartnerschaft. Die Liebe zur Fotografie hat ihm sein Vater Heinz Hosch, der mit Bildern des Prager Frühlings berühmt wurde, vererbt. Als Hommage haben wir zusammen 52 NFTs in Form von Porträtfotos von seinem Vater und Stars wie J.Lo, Iggy Pop, Meryl Streep oder Steven Spielberg herausgebracht. Wer eines dieser insgesamt 52 Unikate erstanden hat, bekommt als Utility selbst ein Fotoshooting mit Rainer Hosch in L.A. Insgesamt lag der Gegenwert beim Erstverkauf der Kollektion bei weit über einer halben Million US-Dollar. In Zeiten, in denen Künstler oft brotlos leben und nur punktuell Bilder verkaufen können, stellen NFTs eine lebensverändernde Chance dar.

Haben Sie auch Beispiele für ein Projekt außerhalb der Kunstwelt?

Hager: Tatsächlich sind zuletzt zwei spannende Projekte entstanden. Auf der Messe re:publica in Berlin hatten Besucherinnen und Besucher die Gelegenheit, einen eigenen NFT zu minten und sich generell über das Thema zu informieren. Die Aktion habe ich für die Bayrische Landeszentrale für neue Medien konzipiert. Das andere Projekt ist mit einem Brennholzhändler aus Bayern entstanden. Pro verkauften NFT, dem Genesis Forest Token (GFT), lagert der Händler viermal einen Kubikmeter Buchenholz ein. Wer den NFT anteilig oder ganz auf der Blockchain „auflöst“, erhält innerhalb von drei bis fünf Tagen den entsprechenden Anteil nach Hause geliefert. Also egal, ob die Lichter in Deutschland ausgehen, dieser Vorrat Brennholz ist sicher. Der Anfangspreis lag bei 0,89 Ether – aber natürlich kann man den NFT auch weiterverkaufen. Zudem sind individuelle Utilities auf die Besitzerinnen und Besitzer verteilt – zum Beispiel der Besuch einer speziellen Weihnachtsfeier auf dem Hof des Händlers, eine Christbaum-Sendung nach Hause oder ein Christbaum-Schmückservice. Das ist ein cooles Projekt und ein Beispiel dafür, wie man einen traditionellen Markt mit NFTs verbinden kann.

Cover des NFT-Magazins von Mike Hager
Anfang November erscheint das erste deutschsprachige NFT-Magazin. Die Beiträge haben Mike Hager und sein Team erstellt und drehen sich um Investments in sowie rund um NFTs, Insights aus der Szene und verschiedenen Interviews mit Künstlern.
Und zu guter Letzt habe ich das erste NFT-Printmagazin der Welt auf den Markt gebracht, natürlich mit einem NFT. Wer den „Das Magazin“-NFT besitzt, bekommt die vier Ausgaben im Jahr 2023 als Printversion nach Hause geliefert, auf Englisch oder Deutsch. Es wurden auf Anhieb 4.635 NFTs von interessierten Lesern weltweit gemintet; das fand ich schon sehr beeindruckend.

Was fehlt dem Markt, um massentauglich zu werden?

Hager: Die Einfachheit. Die derzeitige strukturelle Komplexität von NFTs und Blockchain ist vergleichbar mit den Anfängen des Internets in den 1990er-Jahren, als man mit Kabeln, Providern und komplexen Anmeldungen zu kämpfen hatte. Bei NFTs tauchen Fragen nach einer Wallet auf, wie man Kryptowährungen kauft, diese auf die Wallet transferiert und so weiter. Wir befinden uns immer noch in der Frühphase. Es sind weltweit schätzungsweise 250.000 bis höchstens eine Million Menschen, die konkret einen NFT besitzen. Damit sind wir auf dem Stand von Bitcoin 2011.

Wie sehr sind NFTs schon jetzt in unserer Wirtschaftswelt etabliert?

Hager: Der zweitgrößte Sportartikelhersteller der Welt, Adidas, hat innerhalb von fünf Stunden 30.000 Trainingsanzüge, Hoodies und Beanie-Mützen für über 20 Millionen Euro in Form von NFTs verkauft – als Gutschein für die Zukunft, da die Produkte zu diesem Zeitpunkt noch nicht hergestellt waren. NFTs werden eine große Rolle für die Transformation der Wirtschaft spielen. Das dämmert vielen Firmen aktuell.

Wie kann Deutschlands Mittelstand von NFTs profitieren?

Hager: Grundsätzlich lassen sich über blockchainbasierte Anwendungen Lieferketten transparent und fälschungssicher nachverfolgen – was punktuell bereits im Einsatz ist. Jedes Unternehmen kann über NFTs seine Kundenbindung intensivieren, zum Beispiel über Punktesysteme, wie es sie heute schon über Payback oder Stempelkarten bei der Eisdiele um die Ecke gibt. Nur dass NFTs noch viel mehr Möglichkeiten dieser Incentivierung bieten. Wichtig ist, dass CEOs und Vorstände Blockchains und NFTs verstehen lernen und dann auf ihren individuellen Case beziehen. Ab und an bekommen zum Beispiel Bekannte aus der Community oder ich selbst Anfragen von Unternehmen, die die Technik verstehen und Know-how aufbauen wollen. An der Universität Hildesheim wird es bald sogar den ersten deutschen NFT-Kurs geben, den ein Teilnehmer aus meinem Mentoring – seines Zeichens Universitätsprofessor – anbietet.

In welchem Feld sehen Sie das größte Potenzial?

Hager: Definitiv im Event- und Veranstaltungssektor. Künstler könnten Fußballtickets des FC Bayern München zum Beispiel zu NFTs gestalten, die übrigens dann absolut fälschungssicher wären. Bei „schwarzen“ Weiterverkäufen würde der Verein durch die Marktplatzgebühr prozentual mitverdienen. Als Zusatznutzen, sprich als Utility, hätten ausgewählte Ticketinhaber die Chance auf exklusive Belohnungen, etwa Treffen mit Stars und so weiter. Dasselbe gilt für Konzertkarten: Wenn man zum Beispiel eine bestimmte Anzahl von Ed Sheerans Auftritten besucht hat, gibt es am Ende der Tournee eine Einladung zur Aftershow-Party – alles transparent und fälschungssicher gespeichert auf der Blockchain. Für Unternehmen und Nutzende gibt es in dieser Hinsicht zahlreiche Spielarten.

Welche Rolle spielt künftig das Metaverse?

Hager: Schon heute basieren soziale Medien wie Instagram oder TikTok auf ästhetischen Standards von Bildern oder Videos. Das wird sich im Metaverse über Kleidung, Skins oder sonstige Ausrüstungsgegenstände für Avatare weiterentwickeln. So entstehen im virtuellen 3-D-Raum individuelle digitale Identitäten. Im Gaming-Bereich ist das bereits ein Milliardenmarkt.

Der „Ethereum-Merge“ im September hat die Blockbildung von „Proof of Work“ auf „Proof of Stake“ umgestellt. Wie beurteilen Sie diesen Schritt?

Hager: Die Umstellung des Mechanismus, um neue Blöcke auf der Blockchain hinzuzufügen, war das wichtigste Ereignis für das Blockchain-Ökosystem und hat den Energieverbrauch um 99,9 Prozent reduziert. Dieser war zugegebenermaßen zu hoch. Im Vergleich zum traditionellen Kunstbereich ist die auf Ethereum basierende NFT-Welt nun sogar klimafreundlicher.

Die Krypto-Szene gilt gemeinhin als Männerdomäne. Trifft das auch auf die NFT-Welt zu?

Hager: In meiner eigenen NFT-Community ist es ungefähr geschlechterparitätisch und zudem auch sehr divers besetzt. Von Millennials, die mit ihren Eltern da sind, bis zur 80-Jährigen haben wir alles dabei, darunter übrigens auch Bayern (lacht). Fachlich gibt es generell sehr spannende und äußerst erfolgreiche Projekte von Frauen, wie zum Beispiel „World of Women“ oder „Women and Weapons“. Und auch Künstlerinnen wie Claire Silver machen coole Sachen. Aber gerade auf Events ist mein Eindruck, dass Männer immer noch in leichter Überzahl sind.

2022 haben NFTs durchschnittlich 90 Prozent an Wert verloren. Was ist Ihre Prognose für die Zukunft?

Hager: Langfristig wird sich die Technologie durchsetzen. Die aktuellen Zyklen von Krypto-Crashs und plötzlichen Hype-Perioden sind für die aktuelle Experimentierphase ganz normal. Schauen Sie sich das Internet an: 1990 der rasante Aufstieg, 2000 dann der Absturz während der Dotcom-Blase und schließlich die erfolgreiche Auferstehung.