Er mag ein wenig schwerhörig sein. Aber er sieht ganz genau hin. Daniel Kahneman ist so etwas wie der akademische Entdecker der Bedeutung von Gefühlen bei Entscheidungen. Sei es die für ein neues Auto, sei es die über Fragen in der Geldanlage. Dabei neigen Menschen unbewusst zum Bias, zur Voreingenommenheit, sagte der Nobelpreisträger Kahneman im Oktober 2021 auf einer Veranstaltung der französischen Hochschule HEC Paris. Und dieser Einfluss sorge dafür, dass Menschen bei Entscheidungen einen „schrecklichen Preis“ zahlen würden. Ein Thema, das gerade jetzt wieder an Wucht gewinnt.
Beispiel Inflation. Da ist zum einen die reale Geldentwertung. Derzeit liegt sie in Deutschland bei rund vier Prozent. Die bange Frage der Anleger aber lautet: Bleibt das so? Und diese Frage ist berechtigt, weil dann die Europäische Zentralbank (EZB) ernsthafter über Maßnahmen nachdenken könnte, die Inflation einzubremsen – und damit den langen Aktienaufschwung abwürgen könnte.
Sollten die Menschen davon ausgehen, dass die Inflation andauert – Stichwort Inflationserwartung –, dürften sie Käufe vorziehen und höhere Löhne fordern. Die Unternehmen wiederum werden ihre Verkaufspreise erhöhen, wenn sie damit rechnen, höhere Löhne und höhere Erzeugerpreise zahlen zu müssen. Finanzexperten sprechen vom Zweitrundeneffekt.
Störende Inflationsängste
Wenn man so will, kann Inflationsangst zu dauerhaft höherer Inflation führen. Es zeigt, wie wolkige Gefühle ihren Niederschlag in harten Zahlen finden können. Gerade in Deutschland, gerade zurzeit. „Das Thema Inflation wird in Deutschland deutlich emotionaler betrachtet als etwa in Großbritannien oder den USA“, sagt Sonja Laud, CIO und damit eine Art Anlagevordenker bei Legal & General Investment Management. Für sie ist die Sorge daher übertrieben – zumal sie davon ausgeht, dass die hohen Inflationszahlen vorübergehender Natur sind.
Wer nun ein Bias zum Pessimismus hat, wird sich unbewusst auch bei seiner Geldanlage entsprechend aufstellen. Und der Optimist? Der dürfte abwinken und darauf verweisen, dass die gefürchteten Zweitrundeneffekte ausbleiben werden. Beide schlussfolgern also in unterschiedliche Richtungen, obwohl die Faktenlage dieselbe ist. Kahneman hätte gewiss eine wissenschaftlich fein ziselierte Begründung dafür. Für den Anleger genügt es, sich bewusst zu machen, dass Entscheidungen immer unter Unsicherheit getroffen werden. Auch Investmentprofis müssen damit leben.
Ein Beispiel: Das Deutsche Institut für Vermögensbildung und Alterssicherung (DIVA) hat Finanzexpertinnen und -experten befragt: 67 Prozent erwarten eine Geldentwertung zwischen 1,5 und drei Prozent. Aber 23,9 Prozent rechnen mit einer Inflation von über drei Prozent. Was nun wahr ist? Das wird die Zukunft zeigen.
Bleibende und treibende Gefühle
In der Gegenwart zumindest ist die Stimmung unter Anlageprofis eher verhalten. Das zeigt etwa eine regelmäßig erhobene Studie der Bank of America. Ergebnis: Die Wachstumserwartungen der befragten Fondsmanager für Unternehmen sind so niedrig wie zuletzt im April 2020 – also in jenem Monat, als die Coronapandemie auch in Europa mit voller Wucht aufschlug. Angst? Nein, aber eine gestiegene Unruhe. Ruhepuls war gestern.
Als Schlussfolgerung steht für Dachfondsmanager Günter Fett deshalb fest: „An der Börse gibt es viele Nebengeräusche, die niemanden weiterbringen“.
Vielleicht ist das auch kein Wunder. Laud konstatiert nämlich eine Menge struktureller Veränderungen im Gefüge der Weltwirtschaft – hin zu Nachhaltigkeit, hin zu Digitalisierung. Und diese Trends haben in den Bewertungen noch keinen vollen Niederschlag gefunden. Eine Entwicklung, die mit Chancen für die Anleger einhergeht. Auch wenn vielleicht die Emotionen dagegensprechen mögen. Verschwinden werden die Gefühle nicht.
„Der moderne Mensch ist stark von Verhaltensweisen geprägt, die ihm über Jahrtausende das Überleben gesichert haben“, sagt Manfred Schlumberger, Vorstand des Portfoliomanagement-Teams von StarCapital. „Bei Gefahr durch den herannahenden Säbelzahntiger war Flucht angesagt. Gelang es, das Mammut unter gewaltigen Opfern zu erlegen, hat man sich tagelang gierig den Bauch vollgeschlagen und Fett angesetzt. Angst und Gier als zentrale Verhaltensweisen werden den Menschen weiter begleiten, sind aber an der Börse von Nachteil.“
Einfache Wahrheiten
Einfach, weil der Mensch deshalb in Boom-Phasen bedenkenlos zugreift – und in der Baisse verkauft, ohne an die Gesetze der Geldanlage zu denken. Eines davon lautet, dass Aktieninvestments auf lange Sicht bislang immer einen Gewinn abgeworfen haben. Einfach weil die Börse eben Rückschläge langfristig kompensiert. Der Ratschlag von Dachfondsmanager Fett lautet daher: die einfachen Wahrheiten der Geldanlage beherzigen. „Dazu gehört auch, nur in das zu investieren, was man versteht und überblickt.“ Ein Gegenbeispiel sind die derzeit populären Kryptowährungen wie Bitcoin oder Ether: „Ob Kryptowährungen schon eine etablierte Anlageform sind, weiß ich nicht“, sagt Laud.
Was bleibt? Das gestiegene Unwohlsein, Skepsis darüber, wie es weitergeht an der Börse. Die Antwort auf diese Unsicherheit, den richtigen Umgang damit, liefert Kahneman. Es sei sinnvoll, den Blick auf die langfristigen Risiken und Chancen zu richten. Intuition, Emotionen? Sind halt unvermeidlich. Sein Rat: „Slow down“, einfach mal durchatmen.