Sie schreiben in Ihrem Buch vom „Selfmade-Aktionär“. Kann man wirklich ohne Vorwissen erfolgreich Geld anlegen?
Christoph Kanzler: Der technische Fortschritt hat es möglich gemacht, dass heute jeder über einen Computer oder ein Smartphone Zugang zum Internet hat. So kann jeder schnell und einfach ein Depot eröffnen und mit einem Klick Wertpapiere kaufen, ohne dass man das Haus verlassen muss.
Immer, wenn etwas einfacher wird und Reibungsverluste vermindert werden, wird es auch häufiger gemacht. Das Internet demokratisiert Kapitalmärkte – und viel wichtiger: Es demokratisiert den Zugang zu Informationen und zu Wissen. Und das ist ein ganz entscheidender Punkt. Es ist alles vorhanden, um Selfmade-Aktionär zu werden: Computer, Internet, kostengünstige Anlageformen. Man kann bereits mit 50 Euro beginnen zu investieren.
Aber was fehlt?
Kanzler: Das Wissen, wie Kapitalmärkte funktionieren, welche Aufgabe sie haben und wie wirklich jeder davon profitieren kann. Märkte sind von Menschen für Menschen gemacht und sie funktionieren dann am besten, wenn sie alle Menschen an der Wohlstandsentwicklung teilhaben lassen.
Warum tun sich die Deutschen so schwer mit der Vorsorge via Kapitalanlage? Und: Können Sie das nachfühlen?
Kanzler: Ich kann das sehr gut nachempfinden. Wir lernen viele wichtige Dinge in der Schule – aber die Dinge, die von Bedeutung für unser Lebens sind, lernen wir dort nicht. Da wir das mit dem Geldanlegen nie richtig gelernt haben, werden falsche und überholte Vorstellungen von Generation zu Generation weitergegeben.
Die Menschen können nicht „gut“ von „schlecht“ unterscheiden und fallen daher immer wieder auf die Versprechungen der Finanzindustrie herein. Viele, viele Menschen haben in Deutschland viel Geld an den Kapitalmärkten verloren. Diese Verluste sind entstanden, weil sich die Menschen zur Spekulation hinreißen lassen haben und in hochkomplexe, teure und dysfunktionale Produkte angelegt haben.
Diese Verluste sind nicht darin begründet, dass Kapitalmärkte möglicherweise Casinos sind. Sie sind vielmehr darin begründet, dass falsche Anlageentscheidungen gefällt wurden. Globale Kapitalmärkte erwirtschafteten in den letzten 100 Jahren im Schnitt sieben Prozent, haben also mehr Aufschwünge als Abschwünge. Diese Tatsache ist aber niemandem wirklich bekannt und bewusst. Gäbe es dafür ein Bewusstsein, würde jeder verstehen, dass das Geheimnis ist, dass es eigentlich kein Geheimnis gibt, um erfolgreich sein Geld für sich arbeiten zu lassen.
Wie sehr hilft die Digitalisierung, die Geldanlage massentauglich zu machen? Angeblich sind bei den jüngeren Deutschen Handels-Apps derzeit sehr populär...
Kanzler: Die Digitalisierung hilft enorm. Der Zugang zu Kapitalmärkten ist simpel und günstig geworden. Es birgt aber auch die Gefahr, dass nach der anfänglichen Euphorie viele Anleger wieder viel Geld verlieren. Über Apps werden überwiegend Einzeltitel gehandelt. Und mit ETFs wird versucht, den Markt zu timen – das heißt, den optimalen Kauf- und Verkaufszeitpunkt zu erwischen. Das ist pure Spekulation und endet wie im Casino immer mit Tränen. Wie im Casino hört man aber immer von den „Gewinnern“; von den vielen Verlieren wird aber nicht berichtet.
Es ist nichts dagegen einzuwenden, aktiv zu handeln – man muss sich aber den Konsequenzen bewusst sein. Investieren bedeutet, sein Geld der globalen Wirtschaft zur Verfügung zu stellen und von der erwartbaren Wertsteigerung zu profitieren.
Sie waren selbst lange in der Finanzindustrie tätig, haben ihr aber inzwischen ein Stück weit den Rücken gekehrt. Warum?
Kanzler: Die Menschen außerhalb und innerhalb der Finanzindustrie reden seit Jahrzehnten aneinander vorbei. Das Bedürfnis der Menschen, wenn sie Geld anlegen, sich vor kurzfristigen Schwankungen zu schützen, wird von der Finanzindustrie mit den abenteuerlichsten Anlagestrategien befriedigt. Das ist ein lukratives Geschäft – aber nur für die Industrie, der Anleger bleibt auf der Strecke.
Die panische Angst der Anleger vor Schwankungen und Crashs erzeugt massive Verluste. Und damit sind wir wieder beim Thema Wissen: Wenn die Menschen wüssten, dass Kapitalmärkte mehr Aufschwünge als Abschwünge haben, dass 7 Prozent Rendite erreichbar sind, dann würden sie vollkommen andere Anlageentscheidungen treffen.
Im Gegensatz zur landläufigen Meinung, vertrete ich grundsätzlich die Auffassung, dass jeder ausreichend aufnahmefähig und klug ist, sein Geld erfolgreich zu investieren – wenn er die wenigen Regeln kennen würde, die es dafür braucht.
Was ist die Lösung? ETFs?
Kanzler: Jede Industrie wird durch Forschung und Innovation verändert. Lange konnte man nur in Einzeltitel investieren. Das Ganze war sehr umständlich, teuer und nur einer gewissen Einkommensschicht vorbehalten. Im nächsten Schritt kamen Fonds auf, die das alles schon vereinfachten, aber immer noch sehr teuer waren und zum Teil heute auch noch sind.
Das Aufkommen von Computern Anfang der 1970er-Jahre veränderte die Anlage nochmals: Plötzlich war es möglich, große Datenmengen zu analysieren. Man verstand immer mehr, dass es nicht möglich war, die Entwicklung von Aktien und ganzen Märkten zu prognostizieren. Es folgten kostengünstige Exchange Traded Funds. Diese ETFs sind aber kein Allheilmittel. Anleger können auch damit Geld verlieren, wenn diese zum wilden Kaufen und Verkaufen verwendet werden. Nur wenn ETFs richtig eingesetzt werden, sind sie für Anleger ein großartiges Instrument.
Aber Finanzprodukte werden verkauft, nicht gekauft. Wird sich das irgendwann einmal ändern?
Kanzler: Wenn Menschen verstehen, welche unglaubliche wertschöpfende Kraft Kapitalmärkte haben, werden sie selbst Lösungen suchen und kaufen, die sie bestmöglich davon profitieren lassen. Dieser Veränderungsprozess ist bereits im Gange. Er wird sich immer mehr beschleunigen, je mehr die jüngere Generation beginnt, ihr Geld anzulegen. Die traditionelle Finanzdienstleistung denkt allerdings noch immer vom Produkt her.