Es ist eine erfreuliche Zahl: Pro Jahrzehnt gewinnen wir rund 2,5 Jahre Lebenszeit hinzu. Für jede Generation bedeutet das: Sie lebt rund 7,5 Jahre länger als die Vorgängergeneration. Gute Zahlen – aber sie haben auch Konsequenzen. Denn altert eine Gesellschaft, hat das Einfluss, etwa auf die staatliche Rente. Aber auch die Wirtschaft verändert sich dadurch. Die Crux: Die Alterung der Gesellschaft ist ein langsamer Trend, sagt Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING.
ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski
Demografischer Wandel: Ein Gamechanger in Zeitlupe
Werden Menschen immer älter, hat das nicht nur Folgen für das Rentensystem. Es gibt Auswirkungen des demografischen Wandels auf die gesamte Wirtschaft, die oft übersehen werden, sagt ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski.
16.07.2021
Carsten Brzeski
ist seit 2013 Chefvolkswirt für Deutschland und Österreich bei der ING
Wird der Effekt des demografischen Wandels über- oder unterschätzt?
Carsten Brzeski: Er wird seit Jahrzehnten unterschätzt. Das mag etwas damit zu tun haben, dass das Thema ein wenig dahinplätschert.
Warum verschätzen wir uns da?
Brzeski: Tatsächlich können Statistiker das Thema gut fassen – es geht etwa um Geburtenraten, um Zuwanderung. Die Kernfrage ist bei solch langfristigen Entwicklungen: Wann steige ich politisch ein? Helfen kann ein Blick nach Japan: Dort ist man uns in der Entwicklung um zehn Jahre voraus.
Das staatliche Rentensystem leidet unter der Entwicklung. Aber welche Folgen hat der Effekt noch?
Brzeski: Tatsächlich lässt sich aus dem Beispiel Japan einiges ableiten – etwa die Abnahme des Produktivitätswachstums, die schrumpfende Beschäftigung, auch das Absinken des gesamtwirtschaftlichen Wachstumspotenzials. Die alternde Gesellschaft zeigt sich aber auch auf Mikroebene. Das Konsumverhalten verschiebt sich – weg von Tech-Spielereien hin zu Dienstleistungen wie Pflege. Aber die größten Folgen hat der Trend für die Rentensysteme und die Frage, wie sie zu finanzieren sind. Deutschland ist eines der ersten Länder Europas, das in diesen Wandel hineinkommt.
Kann man gegensteuern, etwa durch Digitalisierung die Produktivität anschieben?
Brzeski: Wir sehen das nicht in den Produktivitätsdaten. Helfen kann langfristig eine höhere Geburtenrate und kurzfristig Zuwanderung, idealerweise qualifizierte Zuwanderung.
Was bedeutet das in Sachen Geldanlage?
Brzeski: Streuung ist die klassische Antwort. Sie werden keinen Volkswirt hören, der etwas anderes sagt. Tatsächlich ist die Bevölkerungsentwicklung einer der wichtigsten Treiber für Wirtschaftswachstum. Unter den entwickelten Ländern weisen nur noch die USA ein Bevölkerungswachstum auf. Das spricht dafür, dass die USA in den nächsten zehn bis 15 Jahren höheres Wachstum verzeichnen können.
Wird es zu einer Zweiteilung der Welt kommen?
Brzeski: Die Emerging Markets, also die aufstrebenden Volkswirtschaften, haben eine jüngere Bevölkerung, die wächst. Ihr Gewicht der Weltwirtschaft wird in den nächsten zehn bis 20 Jahren wachsen. Aber Obacht: Man muss die Daten immer hinterfragen. Denn die bloße Entwicklung der Bevölkerung allein reicht nicht; es braucht auch das passende Bildungsniveau, um Wachstum zu erwirtschaften.
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