Gesundheitswesen

Unterdigitalisiert – bis das Virus kam

Videosprechstunden sind plötzlich normal, bei der Kommunikation verzichten Ärzte immer öfter auf das Fax, Terminvergaben erfolgen online: Im Gesundheitswesen tut sich etwas. 

09.07.2020

„Es ist eine von wenigen Branchen, in der man Digitalisierung noch einmal von Anfang an denken kann“, sagt Daniel Schneider. Im DUB Video-Call diskutierte der Chef des Telemedizin-Start-ups KRY gemeinsam mit

und Moderator Jens de Buhr, Verleger des DUB UNTERNEHMER-Magazins.

In der Hochphase der Corona-Krise klagten Ärzte über leere Wartezimmer. Warum?

„Es gab einen harten Stopp bei der Arzt-Patienten-Beziehung. Bei den Ärzten auf unserer Plattform ist die Zahl der physischen Konsultationen teils um 50 Prozent eingebrochen“, sagt Ilias Tsimpoulis von Doctolib. Das französische Unternehmen stellt Ärzten Tools wie eine Online-Terminvergabe zur Verfügung, um Patientenflüsse besser steuern zu können.

Doctolib arbeitet mit 125.000 Ärzten sowie 3.000 Gesundheitseinrichtungen in Europa zusammen. In der Krise hat das Team um Tsimpoulis schnell reagiert und einen Service, der bis dahin nur in Frankreich verfügbar war, auch in Deutschland eingeführt: Im April wurden innerhalb von zwei Wochen 1.000 Ärzte mit Möglichkeiten zur Videosprechstunde ausgestattet. „Es brauchte einen nicht-physischen Kontaktpunkt“, so Tsimpoulis. Eben weil die Versorgung der Patienten, wenn sie vor Ort nicht mehr möglich war, dennoch fortgesetzt werden musste.

Macht die Telemedizin den Arztbesuch eines Tages komplett überflüssig?

Nein, sagt Daniel Schneider. Er ist Deutschlandchef von KRY. Das Telemedizin-Start-up startete 2014 in Schweden; seit Ende 2019 ist das Angebot auch in Deutschland verfügbar.

Schneider erwartet, dass bei der Patient-Journey künftig sowohl digitale als auch reale Touchpoints eine Rolle spielen werden. „Man kann nicht alles telemedizinisch lösen“, sagt er. Die Journey könne etwa digital mit einer Konsultation beginnen, ein realer Besuch, etwa in der radiologischen Praxis, sei aber zur Diagnostik unerlässlich. „Die Befundbesprechung kann dann wieder digital stattfinden.“

Und weil es künftig eben auf die Mischung aus realer und digitaler Welt ankommt, hat KRY in Schweden gerade eine kleine Kette von Gesundheitszentren übernommen. Schneider konstatiert, dass es telemedizinische Angebote in dem skandinavischen Land etwas leichter haben als hierzulande. Denn die Arzt-Patienten-Beziehung ist dort nicht ganz so eng: „In Schweden sind es die Menschen gewohnt in Gesundheitszentren zu gehen statt zu einem Hausarzt.“

Wo und wie sind im Gesundheitswesen effizientere Prozesse möglich?

Bei der Kommunikation besteht Nachbesserungsbedarf – da sind sich die Teilnehmer im DUB Video-Call einig. „In einem Klinikum wird irrsinnig viel telefoniert“, sagt Jochen Werner, Ärztlicher Direktor des Uniklinikums Essen. „Jedes Telefonat oder der Versuch, einen beschäftigten Kollegen zu erreichen, unterbrechen den Arbeitsalltag.“ Und machen damit die Arbeit ineffizient.

Abhilfe schaffen Messenger-Apps. Die App des niederländischen Start-ups Siilo etwa soll vor allem helfen, Patientendaten schnell, DSGVO-konform und unkompliziert mit anderen zu teilen. Knapp 250.000 aktive Nutzer zählen die Macher der App inzwischen. Und diese Nutzer vernetzen sich zunehmend auch klinikübergreifend. So tauschen sich etwa die Leiter von Intensivstationen an deutschen Unikliniken mithilfe von Siilo über ihre Erfahrungen mit Covid-19-Patienten aus.

„Die System- und Prozessentwicklung in Krankenhäusern kann bisher nicht mit dem medizinischen Fortschritt mithalten“, betont Sassan Sangsari. Der Ärztliche Manager bei Siilo ist selbst Mediziner und war zuletzt in der Herzchirurgie der Universitätsklinik Köln tätig. „Einerseits sind hochmoderne Da-Vinci-Operationsroboter im Einsatz, andererseits wird der Befund per Fax verschickt.“

„Das Bewusstsein dafür, dass Digitalisierung nötig ist, war auch schon vor der Krise da. Wir waren unterdigitalisiert. Doch jetzt sehen wir einen forcierten Wandel“, sagt Tsimpoulis. „Aber wir nutzen die digitalen Hilfsmittel immer noch nicht genug.“ Was verwundert, denn laut dem Doctolib-Chef würden sich 22 Prozent der Mediziner aufgrund des hohen administrativen Aufwands nicht noch einmal für den Job entscheiden. „Die Digitalisierung von Prozessen in Praxen wird die Dauer von nicht sinnstiftenden Aufgaben reduzieren, mehr Zeit für die Behandlung des Patienten lassen und dessen Versorgung verbessern.“

Auch die BigTechs Amazon, Apple und Google haben das Gesundheitswesen für sich entdeckt. Stellen sie eine gefährliche Konkurrenz dar?

Tsimpoulis sieht es gelassen: „Amazon identifiziert in Prozessen Verbesserungsmöglichkeiten – und das ist doch erst einmal gut. Durchsetzen werden sich dann am Ende die besten Lösungen und die müssen ja nicht von Amazon kommen.“

Schneider sieht in Amazon ebenfalls keine direkte Konkurrenz – eher in Google und Apple. Denn die beiden US-Konzerne haben mit ihren Smartphones bereits die Technologie-Basis, um telemedizinische Dienste anzubieten. Aber: Man dürfe nicht unterschätzen, wie kompliziert der europäische Markt sei, sagt Schneider. Es gibt in Europa eben kein einheitliches Gesundheitssystem. Wer sich eher vor Amazon fürchten müsste? Apotheken. Arzneimittel verkaufen – da bestehen für einen Tech-Riesen keine großen Hürden.

Dass man kein BigTech sein muss, um groß zu denken, beweist Werner. Er will aus der Uniklinik Essen ein Smart Hospital machen. Bei der Transformation geht es aber nicht nur um Effizienzsteigerungen und Wirtschaftlichkeit. In einem Smart Hospital sollen der Patient und der Mitarbeiter deutlich mehr im Mittelpunkt des Handelns stehen. „Jetzt konzentrieren wir uns gerade auf den Aufbau eines Instituts für Künstliche Intelligenz in der Medizin“, sagt Werner. „Ziel ist es, ein Zentrum für Super-Diagnostik aufzubauen, dass nicht nur unserem Klinikum dienen soll, sondern auch niedergelassenen Ärzten und anderen Krankenhäusern.“