Aufnahme von Paris
14.10.2021    Martin Hintze
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Paris ist die Stadt der Liebe, des Savoir-vivre. Paris – das ist aber auch die Stadt der Perspektivlosigkeit und Ausschreitungen in den Banlieues, mit regelmäßigen Verkehrsinfarkten am Arc de Triomphe und denkbar schlechter Luftqualität. 2015 belegte Frankreichs Hauptstadt kurzzeitig den unrühmlichen ersten Platz der Orte mit der schlimmsten Luftverschmutzung – vor Neu-Delhi.

Das ist die 15-Minuten-Stadt

Mit diesen Widrigkeiten will Anne Hildago gründlich aufräumen. Die Bürgermeisterin, die im kommenden Jahr auch zur Präsidentschaftswahl antritt, setzt radikale Reformen in Gang. Die Seine-Metropole soll sich neu erfinden. Seit Juli gilt in der ganzen Stadt ein Tempolimit von 30 km/h. Drei Viertel der öffentlichen Parkplätze sollen wegfallen; jede Straße bekommt bis 2024 eine Fahrradspur. Die Prachtstraße Champs-Élysées wird verkehrsberuhigt und erhält einen Garten für 250 Millionen Euro.

Hildago nennt es die „ökologische Transformation der Stadt“. Das Fundament für den Umbau ist das Konzept der „ville du quart d’heure“ – der „15-Minuten-Stadt“. Ersonnen hat es Carlos Moreno von der Universität Sorbonne. „Wir wollen, dass man in einer Stadt nicht weit – nicht mehr als 15 Minuten – von seinem Wohnort entfernt ist, sei es, um zur Arbeit zu gehen, einzukaufen, die Gesundheitsversorgung in Anspruch zu nehmen, Kultur zu genießen oder sich zu entspannen“, fasst der Professor das Prinzip zusammen. Bürgermeisterin Hildago will die Banlieues, die verrufenen Vorstadtviertel, etwa durch kulturelle Angebote und Grünflächen lebenswerter machen. 100.00 Bäume sollen rund um die Stadtautobahn Périphérique gepflanzt werden, 60 neue U-Bahn-Stationen sind geplant. 

Die Vision des Städteplaners Moreno macht Schule: In Barcelona entstehen „Superblocks“, in denen Straßen zu Erholungsräumen mit Grünflächen und Spielplätzen werden. Oslo will das soziale Miteinander fördern und die Feinstaubbelastung senken, Berlin Autos aus dem neuen Stadtteil auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tegel verbannen. „Der Prozess des Stadtumbaus erfolgt immer schubweise“, sagt Professor Thomas Beyerle, Researchleiter und Managing Director beim Analysehaus Catella Property Valuation. „In der Vergangenheit waren Quartiersentwicklungen zu häufig durch Monokulturen gekennzeichnet. Inzwischen hat man erkannt, dass eine Vielfalt der Nutzungen und eine gesunde soziale Durchmischung von Vorteil sind“, ergänzt Björn Dahler, Geschäftsführer des Maklerhauses Dahler & Company.

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Corona erhöht Handlungsdruck

Doch warum wurde früher anders geplant? Wie kam es zur teils strikt getrennten Nutzung einzelner Viertel? „Städtebaupolitisch war das durchaus gewollt. In den 20er- und 30er-Jahren sowie nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele Städte in drei Bereiche aufgeteilt: dort, wo man arbeitet, wo man wohnt und wo man seine Freizeit verbringt“, sagt Dirk Hünerbein, Director of Development Austria & Germany beim Immobilien- und Investmentunternehmen Unibail-Rodamco-Westfield (URW). Im Industriezeitalter sollte die Trennung von Wohnen und Arbeiten die Bevölkerung vor dem giftigen Qualm der Fabrikschlote schützen.

Dass ein Wandel dringend nötig ist, hat nicht zuletzt die Coronapandemie offenbart. In den Monaten des Lockdowns waren Innenstädte, Einkaufszentren und Büroblöcke verwaist. „Jetzt fokussieren sich viele Akteure auf die 15-Minuten-Stadt“, sagt Hünerbein. URW selbst entwickelt in der Hamburger HafenCity das Überseequartier, bei dem die verschiedenen Einrichtungen noch verdichteter geplant werden.

Eine der größten Herausforderungen für die Städteplaner: Den Bestand an Gebäuden so umzugestalten, dass sie für eine völlig neue Nutzung infrage kommen. „Der Begriff Immobilie deutet es schon an: Eine Einzelhandelsfläche mit 20 Meter Breite zu Wohnungen umzubauen ist schwierig. Aus einem Hotel oder Büro Wohnflächen zu machen ist dagegen schon eher möglich“, sagt Hünerbein.

Was bedacht werden sollte: Idealerweise findet die publikumswirksame Nutzung im Erdgeschoss statt, während die darüberliegenden Stockwerke flexibel nutzbar sind. Doch diese Aufteilung existiert längst nicht ­überall. „Das Prinzip des Kontorhauses, in dem Wohnen, Arbeiten und Handeln unter einem Dach stattfanden, ist größtenteils verloren gegangen“, so der URW-Mann. Zwar würde der Begriff „Mixed Use“ bei Planern und Investoren momentan inflationär gebraucht, doch „ein Wohnhaus mit einem Kiosk ist noch lange kein Mixed-Use-Konzept“, kritisiert Hünerbein. Hinzu kommt, dass die neue Nutzung bestehender Immobilien immer auch eine Frage der behördlichen Genehmigungen ist. „Umwidmungen sind sehr komplex und individuell“, sagt Immobilienforscher Beyerle.

Autos raus!

Eine weitere große Herausforderung besteht darin, die Infrastruktur an die Bedürfnisse der Bewohner innerhalb der 15-Minuten-Stadt anzupassen – und sie besser mit anderen Stadtteilen zu verbinden. „Das Auto steht bei der Quartiersentwicklung nicht mehr im Mittelpunkt“, sagt Beyerle. Das soll maßgeblich zur ökologischen Transformation beitragen und helfen, die Luftqualität durch weniger Abgase zu verbessern.

Doch mit einer Verbannung des Autoverkehrs allein ist es nicht getan, schließlich sollen die Bewohner zwar innerhalb weniger Minuten alles Wichtige erreichen können, aber nicht in ihrem Quartier eingepfercht werden. Ohne einen spürbaren Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs dürfte das in vielen Städten kaum umsetzbar sein. Auf kürzeren Distanzen sollen nachhaltige Mobilitätskonzepte dafür sorgen, dass die Städter möglichst emissionsneutral unterwegs sind. Leihfahrräder, E-Roller, kleine Elektrobusse: Vieles davon ist bereits im Einsatz oder in der Erprobungsphase. „Nachhaltigkeit wird zunehmend zum zentralen Faktor in der Stadtentwicklung“, resümiert Dahler. Das gilt nicht zuletzt beim Bau: „Ressourcen- und energiesparendes Bauen sind ebenso wichtig wie  eine umwelt- und klimafreundliche Bewirtschaftung der entstehenden Gebäude.“

14.10.2021    Martin Hintze
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