Corona

Modell Tübingen: Der Ausweg aus der Krise?

Eine kleine Universitätsstadt an der Schwäbischen Alb macht den Metropolen vor, wie der Kampf gegen Corona zu führen ist. Wie schützt Tübingen seine Bürger konkret? Und sind diese Methoden auf die gesamte Republik zu skalieren?

18.02.2021

Wie die Pandemie im Jahr 2021 verlaufen wird ist ungewiss. Konkrete Pläne im Kampf gegen das Virus sind nicht zu erkennen – und das zu einer Zeit, in der die Gesellschaft auf eine klare Exit-Strategie hofft. Stattdessen lautet die Devise der Politik weiterhin: harter Lockdown, impfen so schnell es eben geht und es irgendwie in den Sommer schaffen – und das trotz neuer, gefährlicher Mutationen.

Machen statt abwarten

Noch ist nicht geklärt, ob bei einer höheren Ansteckungsgefahr eine Inzidenz von 35 überhaupt ausreicht. So erklärt Michael Meyer-Hermann, Leiter der Abteilung System-Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, in einem Interview mit dem NDR: „Wir sind aktuell mit mindestens zwei Pandemien konfrontiert. Die alte haben wir mit den aktuellen Maßnahmen unter Kontrolle. Die britische Mutation B.1.1.7 mit ihrer deutlich höheren Übertragungswahrscheinlichkeit ist das größere Problem.“ Eine frühzeitige Lockerung könnte demnach zu einer neuen Katastrophe führen. Es solle laut Meyer-Hermann deshalb eher eine Inzidenz von zehn erreicht werden.

Also doch abwarten, Kaffee trinken und die Entwicklungen beobachten? Für viele – insbesondere in der Wirtschaft – ist das längst keine Option mehr. Schließlich stehen Existenzen auf dem Spiel.

Wie eine offensive Bekämpfung von Covid-19 aussehen kann, zeigt sich in Tübingen. Die Stadt hat mit einem Inzidenzwert von 34,7 (Stand: 16. Februar 2021) bereits die magische Zielgröße von 35 erreicht und liegt damit deutlich unter dem bundesweiten Durchschnitt von 59 (Stand: 16. Februar 2021). Welche Maßnahmen hat Tübingen konkret ergriffen? Und sind diese universell anwendbar?

Schnelltests zur Selbstanwendung

Beim Dauerlockdown kann es auf jeden Fall nicht bleiben. Davon ist Tübingens Bürgermeister Boris Palmer (Bündnis 90/Die Grünen) überzeugt. „Wir bieten seit November kostenlose Schnelltests an. Das hatte einen schnelleren Rückgang des Inzidenzwerts zur Folge. Außerdem testen wir seit dem letzten Sommer intensiv in Alten- und Pflegeheimen und haben deshalb dort viel weniger Ansteckungen“, sagt Palmer im DUB Digital Business Talk.

Er schätzt die derzeitige Öffnungspolitik für Schulen und Kitas als unzureichend ein: „Es müssen alle Kinder wieder zur Schule gehen. Dafür haben wir die neuen Schnelltests zur Selbstnutzung in großer Menge bestellt. Bereits in der ersten Woche haben sich 2.000 Beschäftigte und Kinder gemeldet, die sich jetzt mehrmals in der Woche testen lassen.“ Erst wenn ein negatives Ergebnis binnen 15 Minuten vorliegt, beginnt für sie der Alltag.

Mit Lockerungen auf regionaler Ebene beginnen

Palmer denkt aber bereits einen Schritt weiter. Mit den Selbsttests wäre eine Lockerung der Maßnahmen durchaus denkbar, wenn bestimmte Auflagen erfüllt werden. „Gastronomie und der Einzelhandel könnten beispielsweise öffnen unter der Bedingung, dass Gäste vor Ort einen Selbsttest vornehmen müssen. Wenn dieser negativ ist, bekommen die Personen eine Marke, die maximal 24 Stunden gültig ist und ihnen das Betreten der Räumlichkeiten erlaubt“, so Palmer.

Einen strategischen Einsatz von Schnelltests sieht auch Dr. Thomas Voshaar, Chefarzt der Lungenklinik am Bethanien in Moers, als essenzielles Mittel gegen Corona. Der Mediziner plädiert dafür, dass die Pandemie nicht im gesamtdeutschen Kontext gesehen werden sollte, sondern eher auf regionaler Ebene: „Wir haben es nicht mit Wellen zu tun, sondern mit Corona-Clustern, die in bestimmten Regionen auftauchen und sich nach verschärften Maßnahmen wieder normalisieren.“ Er wünscht sich daher einen strategischen Einsatz von Maßnahmen und Lockerungen – ausgehend von der regionalen Situation.

SOS aus dem Mittelstand

„Wir können eine starke Verunsicherung bis hin zu Angst und Verzweiflung feststellen“, sagt Guido Lohmann, Vorstandsvorsitzender der Volksbank Niederrhein. Neben seiner Tätigkeit bei der Bank ist er im Initiativkreis Moers aktiv, einem Zusammenschluss von Unternehmen der Region. Lohmann hat deshalb einen tiefen Einblick in die wirtschaftliche Situation seiner Heimat: „Seit letztem März wird massiv in die unternehmerische Freiheit eingegriffen. Da kam es schon häufiger vor, dass manche Betriebe ihre Türen von heute auf morgen schließen mussten.“

Die Frustration im Mittelstand sei groß, da die angekündigte „Finanz-Bazooka“ von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier und Bundesfinanzminister Olaf Scholz nicht schnell genug ausgezahlt werde. „Viele Unternehmer haften mit ihrem Vermögen. Ich habe Menschen getroffen, die sich ihre Altersvorsorge auszahlen lassen mussten, um diese schwere Zeit überbrücken zu können“, so Lohmann.

Kanzlerin in der Filter-Bubble

Palmer kritisiert im Talk die Bundesregierung: „Das Problem ist, dass sich die Bundeskanzlerin auf einen Pfad begeben hat, der keine Abweichungen vom Kurs zulässt.“ Angela Merkel lasse sich nur von Wissenschaftlern beraten, die sie selbst ausgesucht hat, und befinde sich deswegen in einer Art Filter-Bubble.

Die konkreten wirtschaftlichen Schäden für die Innenstädte sind heute noch nicht absehbar. Mit einer großen Insolvenzwelle rechnet Gordon Pelz, CEO der OMNITEST Gruppe und beratendes Vorstandsmitglied beim Bundesverband mittelständische Wirtschaft. „Wenn die Städte erst einmal verwaist sind, fehlt der Gesellschaft ein wichtiger Teil der Kultur.“

Dem stimmt Lohmann zu und befürchtet zudem politische Folgen: „Sie können Unternehmern in Existenznot nicht erklären, warum der Inzidenz-Schwellenwert einfach von 50 auf 35 gesenkt wurde. Das schürt massives Misstrauen in die Politik.“

Pelz appelliert an das demokratische Partizipationsprinzip der Gesellschaft: „Wir müssen alle ein bisschen lauter werden und konkrete Lösungen anbieten. Ich bin guter Dinge, dass wir mit erhöhtem Druck einiges bewirken können.“ Letztendlich bräuchte man eine klare Exit-Strategie, bei deren Konzeption der deutsche Mittelstand gerne behilflich sei. Pelz: „Nichts ist alternativlos. Das zeigen Beispiele wie Tübingen deutlich.“