Nicola Beer
12.04.2021    Madeline Sieland
  • Drucken
YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Zur Person

Nicola Beer

ist Vizepräsidentin und Mitglied des Europäischen Parlaments. Daneben ist sie stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP. Sie war Mitglied des Deutschen Bundestags (2017-2019) und Generalsekretärin ihrer Partei (2013-2019)

Mit Blick auf die Digitalisierung heißt es häufig: In der Praxis wäre schon vieles möglich, aber die Politik kommt mit den Anpassungen der Gesetzgebung nicht hinterher. Gilt das auch für das Thema Nachhaltigkeit?

Nicola Beer: Auf jeden Fall. Ich glaube, wir brauchen eine neue Form der Gesetzgebung. Eine Art „Smart Regulation“, die nicht dem deutschen Instinkt nachgibt, alles im Kleinsten regeln zu wollen. Dass wir für alles eine Ausnahmeregelung bräuchten, alles bedenken müssten – das liegt häufig an einer falsch verstandenen Gerechtigkeitsdebatte. Aber Technologie entwickelt sich nicht Stück für Stück linear weiter, sondern es wird schnell eine Technologie gegen eine andere getauscht. Und auf disruptive Entwicklungen müssen wir als Gesetzgeber eben auch anders agieren. Ich plädiere dafür, einen großen Rahmen zu schaffen, der auf grundsätzlichen Prinzipien und gemeinsamen Zielen beruht.

Das klingt unternehmerisch denkend. Jetzt stoßen Sie in der Praxis aber auch auf Menschen und Institutionen mit anderen politischen Hintergründen. Wie ist da Ihre Durchsetzungsfähigkeit?

Beer: Deshalb ist es wichtig, Praxisbeispiele parat zu haben. Ich tausche mich viel mit Unternehmerinnen und Unternehmern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus. Wenn mir ein Unternehmer sagt, wo in Genehmigungsprozessen die meiste Zeit verloren geht, dann kann ich das aufnehmen und weitergeben. Dass es anders geht, zeigt sich ja gerade in der Impfstoffentwicklung und den Zulassungsverfahren. Was in der Pharmabranche sonst zehn Jahre gedauert hat, haben wir jetzt in zehn Monaten erreicht. Nun müssen wir dafür sorgen, dass das nicht die Ausnahme bleibt. Diese Geschwindigkeit müssen wir auch auf andere Gebiete, etwa Künstliche Intelligenz, übertragen.

Der „Green Deal“ besagt, dass die EU bis 2050 klimaneutral sein soll. Die Förderung von Nachhaltigkeit steht daher auch im Mittelpunkt des europäischen Corona-Wiederaufbaufonds. Wie ist hier der Status quo?

Beer: Es ist klar verankert, dass 37 Prozent der Gesamtzuweisungen in den Mitgliedsstaaten in den ökologischen Wandel fließen müssen. Mindestens 20 Prozent müssen zudem den digitalen Wandel befördern. Damit wollen wir quasi zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wir geben in dieser Ausnahmesituation viel Geld aus – 750 Milliarden Euro, das ist ein riesiges Paket. Und das sollte dann auch mithelfen, die vor uns liegenden Transformationsprozesse zu bewältigen.

Wie stellen Sie sicher, dass das Geld tatsächlich in Zukunftsprojekte fließt?

Beer: Ich glaube, wir haben hier erfolgreich für einen guten Regelungsrahmen gestritten. Hätte ich den allein schreiben dürfen, hätte der sicher ein bisschen anders ausgesehen. Aber auf europäischer Ebene geht es nun einmal darum, Kompromisse zwischen 27 Staaten zu finden. Daher bin ich jetzt dankbar, dass es die Konditionalität gibt, dass das Geld immer an Bedingungen geknüpft ist. Man kann das Geld nicht einfach nehmen und es irgendwo im Haushalt unterbringen. Es ist richtig, dass wir das erste Mal den Finger wirklich in die Wunde legen, dass das „Europäische Semester“ erstmals wirklich zur Anwendung kommt. Das heißt, wir prüfen nationale Haushalts- und Reformentwürfe frühzeitiger. Und jetzt heißt das Prinzip ganz klar: Geld gegen Reform. Wir dürfen Projekte nicht finanzieren, weil ein Politiker in seinem Land damit Wahlgeschenke verteilen oder zum Konsum motivieren will. Das Programm heißt „NextGenerationEU“, weil es die nächste Generation absichern soll. Wenn wir den Regelungsrahmen nicht verteidigen, laufen wir Gefahr, dass eben dieses Programm nur für „Next Generation Schuldenaufbau“ sorgt.

Sie haben es bereits angesprochen: Die EU ist alles andere als homogen, Mitgliedsstaaten haben ihre eigenen Agenden. Wie sieht es mit den innereuropäischen „Konfliktlinien“ in Sachen Nachhaltigkeit aus?

Beer: Es gilt bei Transformationsprozessen zu berücksichtigen, dass die Länder unterschiedliche Startpunkte haben. Staaten, die nach wie vor auf Atomenergie setzen, haben mit CO2 wahrscheinlich weniger Probleme. Gleichzeitig muss man bedenken, dass zum Beispiel die skandinavischen Länder in Hinblick auf Wind- und Wasserkraft ganz andere Voraussetzungen haben als etwa Mittelosteuropa. Dort gibt es nach wie vor eine große kohlegestützte Energiewirtschaft. Insgesamt denke ich, wir sollten den Ländern nicht verbieten, auf diese oder jene Energiearten zu setzen. Wir sollten es aber honorieren, wenn sie sich verbessern wollen. Wenn beispielsweise eine Gasleitung mit Unterstützung von europäischen Geldern gebaut wird, sollte bereits berücksichtigt werden, dass diese künftig auch Wasserstoff transportieren kann. Denn Wasserstoff ist eben nachhaltiger als Gas.

Inwieweit ist Nachhaltigkeit auch eine Frage der Generation, vielleicht sogar des Einkommens?

Beer: Das Bewusstsein dafür hat auf jeden Fall zugenommen – über alle Altersgruppen hinweg. Jeder muss Verantwortung übernehmen für sein eigenes Handeln und den Umgang mit Ressourcen. Die Jugend ist da aktuell besonders ungeduldig und macht über Grenzen hinweg unerbittlich auf das Thema aufmerksam. Als Politikerin muss man mit deren Wortwahl umgehen können. Aber es gilt dann auch einen rationalen Weg zu finden, der für die gesamte Gesellschaft gangbar ist und nicht nur für kleine Teile. Wir müssen dafür sorgen, dass Nachhaltigkeit auf allen sozioökonomischen Ebenen funktioniert und nicht nur bei denen, die es sich leisten können. Es ergibt ja zum Beispiel überhaupt keinen Sinn, wenn sich Rentner oder Arbeitslose den Strom oder das Heizen am Ende nicht mehr leisten können. Das ist dann der Moment, in dem es zur Spaltung in der Gesellschaft kommt. Deshalb brauchen wir intelligente Konzepte, um wissenschaftsbasiert Innovationen voranzutreiben.

Findet das in der Praxis aber auch wirklich statt?

Beer: Noch viel zu wenig. Große Teile der Politik neigen dazu, selbst entscheiden zu wollen, und glauben ernsthaft zu wissen, was die bessere Technologie ist.

Woran machen Sie das fest?

Beer: Nehmen Sie die aktuelle Diskussion in Deutschland um das Verbot des Verbrennungsmotors, die ich absolut nicht nachvollziehen kann. Dass die Chinesen jetzt voll auf Elektromobilität setzen, ist logisch. Denn in Sachen Batterieproduktion haben sie die Nase vorn. Aber wie der ökologische Fußabdruck dieser Batterien eigentlich ist, darüber wird kaum gesprochen. Stattdessen subventionieren wir jetzt auf Zwang ebenfalls die Batterieproduktionen und E-Autos. Dabei wissen wir gar nicht, wo wir den ganzen Strom dafür herbekommen wollen. Besser wäre doch, da anzusetzen, wo wir bereits eine Technologieführerschaft haben: Anstatt Verbrennungsmotoren zu verbieten, sollten wir sie mit alternativen Kraftstoffen wie E-Fuels antreiben. Doch wenn nur die Batterie politisch subventioniert wird, dann wird darauf kein Hersteller setzen. Wir müssen wissenschaftsbasiert und technologieoffen an die Mobilität gehen und dürfen diese nicht einschränken. So sichern wir auch die Arbeitsplätze in einem Bereich, in dem wir schon Vorreiter sind – und schaden gleichzeitig nicht der Umwelt. So zeigen wir auch: Wir können Technologie und Nachhaltigkeit miteinander verbinden. Das ist der Schlüssel zu Innovation.

Bei den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen geht es nicht nur um Klimaschutz, sondern auch um Themen wie Armutsbekämpfung, Diversität, Gesundheit und mehr. Lassen sich diese Themen gemeinsam mit dem ökologischen Aspekt vorantreiben?

Beer: Ich denke schon, dass man die anderen Ziele gleichzeitig mitverfolgen muss, weil es sonst ein Ungleichgewicht gibt. Wenn ein Land in absoluter Armut lebt, keine Medikamente zur Verfügung hat oder auch sonst kaum Hygienestandards existieren, dann wird es hier schwer, das Thema Müllvermeidung anzugehen. Deswegen kommen dort dann eher basale Nachhaltigkeitsziele der UN zum Tragen. In Deutschland hat jedes Kind ein Recht auf Bildung und auch eine Schulpflicht. In anderen Ländern müssen wir vor Ort darum kämpfen, dass Kinder zur Schule gehen dürfen und nicht stattdessen arbeiten müssen. Das darf auf keinen Fall aus den Augen verloren werden; das gehört schlichtweg zu dem humanitären Ansatz, den wir als Europäische Union haben. Das wird auch bei der Pandemiebekämpfung berücksichtigt. Deswegen gibt es die COVAX-Initiative, eine internationale Allianz, die Impfstoffe beschafft, finanziert und dann in solche Länder liefert. Die wären ansonsten von ihrer Struktur her völlig überfordert, so etwas sicherzustellen.

Eines der meistdiskutierten Themen aktuell ist das Lieferkettengesetz. Wie stehen Sie dazu?

Beer: So ein Gesetz muss natürlich umsetzbar sein. Ich bin deshalb für einen größen- und risikobezogenen Ansatz. Wir wissen, dass es Branchen gibt, die wesentlich anfälliger sind als andere. Diamantminen oder der Textilbereich etwa. Und dann ist es natürlich etwas anderes, ob wir von einem multinationalen Konzern oder einem kleinen Mittelständler sprechen, der im vierten oder fünften Zuliefererschritt steht. Der kann nicht bis an die Wurzel der Produktion Verantwortung oder gar Haftung übernehmen müssen. Das muss meiner Ansicht nach reduziert werden auf den unmittelbaren Wirkungsbereich. Sprich: Ich kann mich als Unternehmer informieren über das, was direkt vor und nach mir passiert. Aber ich kann nicht eine komplette Lieferkette überschauen.

Das Gesetz muss also nachgeschärft werden?

Beer: Es muss zielgerichteter werden. Man kann jemandem nicht einfach eine Haftung für etwas übertragen, was er gar nicht beeinflussen kann. Das ist widersinnig, und das wird uns nur schaden. Wir dürfen auf gar keinen Fall riskieren, dass Unternehmer, die in den unterschiedlichsten Ländern die Entwicklung vor Ort sehr positiv beeinflussen, daran gehindert werden, das weiter zu tun. Wir müssen solch ein verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln eher weiter unterstützen. So kann ein praktikables Modell entstehen, das aber Hand in Hand mit staatlichen Maßnahmen gehen muss. Denn wenn ich als Europäische Union mit einem geeinten Auftreten, mit einer starken Stimme in der Außenpolitik und in der Menschenrechtspolitik nicht den Druck auf Länder ausüben kann, dann kann ich nicht erwarten, dass ein kleiner Mittelständler das tut. Da sind die ersten Sanktionen gegenüber China ein wichtiger Schritt. Damit zeigen wir: Wir wollen die Partnerschaft, doch bei uns gehen Menschenrechte und Marktzugang Hand in Hand.

12.04.2021    Madeline Sieland
  • Drucken
Zur Startseite