Zwei Hände steuern ein mobiles Endgerät und es laufen virtuelle Linien auf sechs animierte Köpfe hinaus. Dazwischen sind Symbole eines Lautsprechers, einer Glühbirne und Sprechblasen.
03.02.2021    Mark Simon Wolf
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Der Programmierer sitzt auf einer Terrasse mit Meerblick auf Bali, der Sales-Supervisor delegiert von einem Coworking-Space aus Lissabon: Das Modell der Remote-Work steht längst für das moderne Arbeiten im 21. Jahrhundert und hat durch die Coronapandemie nochmal einen Schub bekommen. Manche Unternehmen kennen gar nichts anderes als die Arbeit aus der Ferne. Lars Müller, Gründer des Nahrungsergänzungsmittel-Start-ups Solidmind Group und CEO der Cannabinoid-Firma Synbiotic, führt seine Unternehmen „seit Stunde Null remote“ – und kann sich mittlerweile nichts anderes mehr vorstellen.

Zur Person

Ein Porträt-Foto von Synbiotic-CEO Lars Müller.

Lars Müller

ist Geschäftsführer der Synbiotic SE, dem ersten deutschen börsengelisteten Cannabis-Unternehmen. Im Fokus des Plattform-Unternehmens stehen die alternative Produktion von funktionell überlegenen Cannabinoiden sowie die Entwicklung von Wellness- & pharmazeutischen Produktformulierungen für den Endkunden unter eigenen Marken. Außerdem steht das Unternehmen für die synthetische Produktion von Cannabinoiden, die Entwicklung von Arznei- und Nahrungsergänzungsmittel sowie von Kosmetikprodukten.

Zur Person

Aktuell befinden sich durch die Coronapandemie unzählige Arbeitnehmer gezwungenermaßen im Homeoffice. Sehen Sie sich in Ihrer Vorreiterrolle als Unternehmen im Bereich Remote-Work bestätigt?

Lars Müller: Ja, das sehe ich so. Ich persönliche arbeite schon seit sieben Jahren remote; mit der Solidmind Group praktizieren wir dieses Modell seit über fünfeinhalb Jahren. Dass sich dieses Modell derart schnell entwickelt hat, haben wir nicht gedacht. Aber es tut mal gut, generell zu sehen, dass remote auch bei anderen Firmen funktionieren kann.

Wie sieht Ihr Modell der Remote-Work konkret aus?

Müller: Bei Solidmind arbeiten wir seit Stunde Null remote. Jeder Mitarbeiter ist bei uns fest angestellt und halb- oder ganztags tätig. Wir arbeiten also nicht mit reinen Freelancern zusammen, was auch als Remote-Work verstanden wird. Wir haben ganz normale Mamas und Papas im Unternehmen. Das Grundprinzip basiert auf virtueller Arbeit: Alle Mitarbeiter haben Laptops oder Rechner und das nötige Tool-Stack wie Slack, Zoom oder Microsoft 365, damit die Datenverarbeitung aus der Distanz auch funktioniert.

Wichtig ist, dass wir mittlerweile wissen, wie wir Remote-Work strukturieren müssen – damit zum Beispiel die Teams funktionieren und damit neue Mitarbeiter angelernt werden können oder dass das Gemeinschaftsgefühl nicht verloren geht und Mitarbeiter motiviert bleiben.

Von welchen Orten der Welt arbeiten Ihre Mitarbeiter generell – eher von „Digital Nomad“-Hotspots wie Bali und Teneriffa oder schlicht aus der eigenen Wohnung im jeweiligen Heimatland?

Müller: In Coronazeiten sind 70 bis 80 Prozent unserer Mitarbeiter in Deutschland. Aber tatsächlich sitzen derzeit viele auch zum Beispiel in Mexiko. Grundsätzlich sind unsere Mitarbeiter in normalen Zeiten auch in Bali oder Thailand unterwegs. Meine Freundin, die auch für Solidmind arbeitet und für das Team und die Remote-Arbeit verantwortlich ist, und ich waren bis zuletzt zweieinhalb Jahre reisen. Wir haben das Unternehmen von unterwegs geführt. Wir waren zum Beispiel viel in Thailand unterwegs. Das geht alles!

Haben Sie feste Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel definierte Arbeitszeiten, an denen alle Mitarbeiter verfügbar sein müssen? Oder können die Mitarbeiter sich ins Bürogeschehen einloggen, wann es ihnen passt?

Müller: Also wir haben von Anfang an gesagt – und das hat auch erstmal nichts mit Remote zu tun –, dass es bei uns eine freie Zeiteinteilung gibt. Die Orts- und Arbeitszeitwahl sind flexibel, weil ich es nicht für sinnvoll erachte, den Menschen in ein 9-to-5-Modell zu zwingen, wenn seine Produktivität zum Beispiel am Nachmittag höher ist. Das operative Geschäft darf allerdings darunter nicht leiden. Der Mitarbeiter bekommt von uns daher die Möglichkeit, seine Tagesstruktur eigenverantwortlich zu organisieren.

Es gibt natürlich ein paar Angestellte, die tagsüber arbeiten müssen. Zum Beispiel kann ein Sales-Mitarbeiter nicht erst um 17 Uhr anfangen, wenn die ganzen B2B-Kunden schon morgens starten. Die Verantwortung für eine erfolgreiche Ausführung ihrer Arbeit liegt aber ganz klar bei den Mitarbeitern.

Sehen Sie in diesem Modell im internationalen Wettbewerb um die besten Mitarbeiter einen Vorteil hinsichtlich der Verpflichtung junger Talente auf dem Arbeitsmarkt?

Müller: Zu 100 Prozent! Wir sehen, dass die neuen Generationen, die heranwachsen, für ganz andere Werte arbeiten. Da geht es dann weniger um extrinsische Themen wie Geld, Macht oder Status, sondern mehr um Selbstbestimmung, Flexibilität oder Erfüllung. Dieser Trend betrifft aber nicht nur die Jüngeren, sondern auch die Erfahreneren, die schon länger im Business sind. Die fragen sich auch, warum sie immer täglich ins Office gehen sollen. Das liegt aber nicht nur an dem Remote-Thema, sondern auch an der Kultur, die wir bei uns pflegen. Meine steile These ist: Remote-Work kann nicht funktionieren, wenn es die Unternehmenskultur nicht zulässt.

Apropos These: Die Personalchefin von BayWa, Eva Boesze, hat die These aufgestellt, dass man nur remote führen könne, wenn man eine bestehende Beziehung zu Mitarbeitern habe. Muss man also schon vorher zusammengearbeitet haben?

Müller: Wir sind seit fünf Jahren der Gegenbeweis zu dieser These von Frau Boesze. Viele Mitarbeiter, die bei uns anfangen, sehen wir teilweise ein halbes Jahr gar nicht. Wir haben aber dennoch zwei physische Workations, wo wir uns treffen können, denn ganz ohne geht es auch nicht. Aber wir stellen prinzipiell nur remote, nur virtuell, ein. Dafür haben wir spezielle Strukturen etabliert. Unsere Mitarbeiter sagen selber, dass sie sich ihren Kollegen im derzeitigen Modell näher fühlen als bei ihren alten Bürojobs. Daher kann ich diese These so nicht bestätigen.

Ab welcher Größe eines Unternehmens stößt das Remote-Modell an Grenzen?

Müller: Es gibt diese Grenzen nicht. Es kommt immer auf die Organisationsstruktur und Planung an. Shopify zum Beispiel plant gerade, alle Offices zuzumachen. Ich weiß nicht genau, wie viele Menschen bei Shopify arbeiten, aber es beweist, dass es klappen kann. Aber nochmal: Ganz ohne den physischen Kontakt geht es nicht. Dafür sind wir immerhin Menschen. Dennoch glaube ich, dass es hinsichtlich einer Unternehmensgröße keine Limits gibt.

Wie sehr leidet der Team-Gedanke unter der Remote-Arbeit? Haben Sie konkrete Leitfäden für Teambuilding oder das Onboarding?

Müller: Wir haben in dieser Hinsicht vielschichtige Aktionen. Das sind diese zwei Termine vor Ort, an denen wir alle Mitarbeiter einfliegen lassen und uns für zehn Tage irgendwo einschließen. Wir haben ein Sommerfest, wir haben Dienstag bis Freitag sogenannte Work-Circles, wo wir uns in virtuellen Großraumbüros treffen – natürlich nur, wer Lust dazu hat. Jeder kann bei uns mitwirken und größtenteils mitentscheiden, damit dieser Teamgedanke erhalten bleibt. Das ist überhaupt nicht Top-down, sondern eher Bottom-up. Und es ist ein guter Mix aus virtuellen Themen und einer Unternehmenskultur, die den Teamgedanken fördert.

Wir würden Sie Ihre Unternehmenskultur in drei Worten beschreiben?

Müller: Selbstbestimmtheit, Leadership und ein gewisser Familliengedanke ist auch dabei. Wir versuchen ein familiäres Umfeld beizubehalten.

Kommen andere Unternehmen auf Sie zu und bitten um Ratschläge oder womöglich Workshops?

Müller: Ja, auf jeden Fall. Nach außen hin haben wir noch nicht so viel PR mit dem Thema gemacht. Aber in der Vergangenheit haben wir auch größere Konzerne mal pro bono beraten. Dabei haben wir gemerkt, dass es letztendlich meistens an der Unternehmenskultur gescheitert ist. Die lässt es oft nicht zu, dass sich Remote-Work durchsetzt. Eine Kultur der Kontrolle schränkt den Willen nach Freiheit und Selbstbestimmtheit stets ein.

Können Sie sich persönlich wieder eine Rückkehr zur reinen Büropräsenz vorstellen?

Müller: Nein, wenn Sie sagen, dass das zu 100 Prozent vor Ort sein müsste. Aber ich kann mir vorstellen, in Europa eigene Offices aufzubauen, mit einem Coworking- oder Coliving-Ansatz. Ich finde die Vorstellung cool, wenn man die Möglichkeit dazu hat, ein paar Tage zusammen zu sein. Dieses hybride Denken finde ich interessant. Aber zurück in den Büroalltag zu gehen, könnte ich mir gar nicht mehr vorstellen.

Wagen Sie eine Prognose: Glauben Sie, dass die Zukunft der Arbeit grundsätzlich in Remote-Work liegt?

Müller: Nein, das wird es nicht. Viele Berufe lassen sich nicht durch Remote-Work realisieren. Außerdem ist damit eigentlich nur die Technik des virtuellen Arbeitens gemeint. Letztendlich brauchen die Unternehmen eher einen kulturellen Wandel, der sich weg von Kontrolle und hin zu Vertrauen entwickelt. Und das sehe ich aktuell nicht gegeben. Dafür müssten erst diese alten Strukturen verschwinden und Platz für neue machen. Wenn die alten Strukturen bleiben, wird Remote-Work nicht funktionieren.

Ein anderer Druck, der aufkommt, ist, dass junge Talente eher remote arbeiten wollen – und eben nicht bei Konzernen mit alter Struktur. Und auf die sind Unternehmen schlicht angewiesen. Das wird noch eine Weile dauern, aber durch diesen Druck wird einiges an Umstellung kommen. Das hat durch Corona jetzt schon begonnen.

Was sind Ihre konkreten Tipps für ein Unternehmen, das nun umstellen möchte?

Müller: Wichtig ist, dass die Kultur umgebaut wird. Sie muss auf Vertrauen und nicht auf Kontrolle basieren. Das fängt im Leadership an, das hinsichtlich Remote-Work neu gedacht werden muss. Alles was auf Top-down und Kontrolle fußt, wird im Remote-Kontext nicht funktionieren. Da würde ich als Erstes ansetzen. Wie man Kommunikations-Tools wie Slack oder Zoom richtig nutzt oder für Mitarbeiter fest reglementiert, sind erst einmal Randthemen. Aber eine ego-freie Führung hinzubekommen, ist eine schwierige Aufgabe. Denn nur dann kann Remote-Work funktionieren.

03.02.2021    Mark Simon Wolf
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