Platine aus Tabletten als Symbol für Vernetzung im Gesundheitswesen
06.12.2021    Maya Timmann
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Mit der elektronischen Patientenakte wurde der erste Schritt zu einem digitaleren Gesundheitssystem gemacht. Und je mehr Daten wir über Menschen und deren Krankengeschichte nutzen können, desto besser können wir ihre Erkrankungen behandeln und desto länger können wir leben. Die Transformation des Gesundheitswesens darf jetzt bloß nicht an Geschwin­digkeit verlieren. Davor warnen Dr. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse, und Professor Jochen Werner, Chef der Uniklinik Essen. Die Mediziner sprechen über Vorteile und Herausforderungen der Digitalisierung im Gesundheitswesen.

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Zur Person

Jens Baas von der TK

Dr. Jens Baas

studierte Medizin in Heidelberg und gehört seit 2011 dem Vorstand der TK an. Seit Juli 2012 ist er der Vorsitzende des Vorstands. Zuvor war er Partner bei der Unternehmensberatung Boston Consulting Group

Zur Person

Jochen Werner von der Uniklinik Essen

Professor Jochen Werner

leitet die Essener Uniklinik. Seitdem er 2015 zum Vorstandsvorsitzenden und Ärztlichen Direktor berufen wurde, widmet er sich verstärkt der Digitalisierung in der Medizin

Die Coronapandemie hat der digitalen Transformation im Gesundheitswesen einen Schub verliehen. Es wurde unter anderem erkannt, wie wichtig die Vernetzung aller Beteiligten wäre. Geht die Digitalisierung des Gesundheitssektors auch weiterhin voran, oder ist sie ins Stocken geraten?

Jochen Werner: Die letzten Jahre haben gezeigt, dass es vorangeht. Aber jetzt müssen wir dranbleiben. Sinnvolle Gesetze wurden verabschiedet, doch nun geht es um die Umsetzung. Vieles wird maßgeblich davon abhängen, wie die neue Bundesregierung vorgeht. In meinen Augen werden Krankenkassen künftig eine riesige Rolle spielen, denn sie verwahren die Daten und wissen, was für die Patienten am besten ist.

Welche Veränderungen sollten im Gesundheitssystem jetzt dringend vorangetrieben werden?

Jens Baas: Das Hauptproblem ist noch immer die mangelnde Vernetzung. Sobald ich auf Daten von anderen Stellen zugreifen muss – wenn Krankenhäuser zum Beispiel mit niedergelassenen Ärzten zusammenarbeiten müssen –, hakt es. Ein Tool, das eine bessere Vernetzung ermöglicht, ist die elektronische Patientenakte. Sie ist ein digitaler Datentresor, in dem Versicherte ihre Gesundheitsdaten sicher speichern, aber eben auch Ärzten zur Verfügung stellen können. Vernetzung bedeutet auch das Auflösen von Grenzen. Wir müssen weg vom Gegeneinander im Gesundheitssystem und näher zusammenrücken.

Inwieweit behindert Datenschutz den Gesundheitsschutz? Könnte die bessere Nutzung von Gesundheitsdaten Leben retten?

Baas: In der Tat muss man davon ausgehen, dass wegen mangelnder Informationen Fehlbehandlungen auftreten können, die schlimmstenfalls zum Tod des Patienten führen könnten. Gerade bei so etwas Persön­lichem wie Gesundheitsdaten ist Datenschutz extrem wichtig. Doch ist Datenschutz wichtiger als unsere Gesundheit? Das ist eine Frage, die man in der Gesellschaft offen diskutieren sollte, um einen Konsens zu finden.

Werner: Meine Meinung: Datenschutz wurde für Gesunde gemacht, und wir brauchen diesen Schutz. Aber wenn man wirklich krank ist, muss die Behandlung im Vordergrund stehen. Datenschutz ist ein angstbeladenes Thema. Deshalb müssen wir eine Informationskampagne starten und Bürgerinnen und Bürger über die Verwendung von Daten aufklären.

Welche innovative Idee im Health-Bereich hat Sie zuletzt besonders beeindruckt?

Baas: Vor einigen Jahren waren die Start-up-Ideen aus dem Gesundheitsbereich oft noch wenig am konkreten Versorgungsalltag orientiert. Ich bin beeindruckt, wie stark sich das gewandelt hat. Heute bekommen wir Ideen, an denen wir sehen, dass Start-ups das Versorgungssystem gründlich analysiert haben und sehr konkrete Lösungsvorschläge machen. Ein Beispiel dafür ist ein junges Unternehmen, das den Übergang aus der stationären psychiatrischen Behandlung in die Ambulanz verbessern möchte. Hier gibt es eine Lücke in der Versorgung, denn häufig sind die Warte­zeiten sehr lang.

In welchen Technologien sehen Sie das größte Potenzial für das Gesundheitssystem?

Baas: Aus meiner Sicht sind es vor allem drei. Zum einen die extrem steigende Rechenleistung. Diese ermöglicht uns – zweitens – den Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Und drittens sind es neue Methoden wie CRISPR, also die Genschere, mit deren Hilfe man einzelne Gene einfügen oder verändern kann.

Werner: Mich beeindruckt derzeit ebenfalls die Genschere, aber vor allem auch die mRNA-Technologie. Diese könnte zum Beispiel die Krebstherapie revolutionieren. Das Potenzial von mRNA können wir im Moment noch gar nicht richtig abschätzen. Ich habe beispielsweise die Hoffnung, dass wir damit auch schneller Lösungen für Anti­biotikaresistenzen und Krankenhauskeime finden. Ich bin zuversichtlich, dass diese neuen Technologien bei vielen Problemen helfen.

Menschen werden immer älter. Die Digitalisierung im Gesundheitswesen und die Fortschritte in der Forschung werden diesen Trend vermutlich verstärken. Welche Herausforderungen kommen auf uns zu?

Baas: Die Digitalisierung allein macht uns nicht gesünder oder älter. Aber in der Umsetzung der Digitalisierung steckt viel Potenzial. Es werden einige He­rausforderungen auf uns zukommen, die vor allem mit der Finanzierbarkeit zu tun haben. Was bedeutet die alternde Gesellschaft für das Renteneintrittsalter? Wie lösen wir Probleme in der Altenpflege? Wie bleibt das Gesundheitssystem insgesamt finanzierbar? Natürlich ist die Lösung nicht, den medizinischen Fortschritt aufzuhalten, damit wir nicht älter werden. Wir brauchen also andere Antworten auf all diese Fragen.

Für die stationäre Versorgung zahlten Krankenversicherungen 2020 mehr als 82 Milliarden Euro. Das entspricht rund einem Drittel der gesamten Ausgaben. Was treibt die Kosten für Krankenhausaufenthalte in die Höhe?

Baas: Prinzipiell sind das sinnvolle Ausgaben, denn wir sind alle froh, hierzulande eine so gute stationäre Versorgung zu haben. Doch wir müssen prüfen: Haben wir zu viele Krankenhausbetten? Es mag erst einmal so auszusehen, als wären zu viele Betten etwas Positives. Doch damit ein Krankenhaus wirtschaftlich gut läuft, müssen diese Betten auch belegt werden. Daher werden Krankheiten stationär behandelt, bei denen eine ambulante Behandlung eigentlich reichen würde. Das lässt die Kosten steigen. Schlimmstenfalls sorgt dieses System sogar dafür, dass Behandlungen vorgenommen werden, die nicht notwendig sind – nur damit Betten belegt sind.

In Nordrhein-Westfalen soll die Krankenhauslandschaft grundlegend verändert werden. Der Plan: eine Kombination aus wohnortnaher Grundversorgung und Spezialisierung der Krankenhäuser. Ist das ein Modell für ganz Deutschland?

Baas: Grundsätzlich ist das ein sehr kluges System, denn nicht jede Klinik kann die beste Versorgung in jeder Disziplin bieten. Und es ist schon heute so: Wenn Menschen chronisch erkranken, suchen sie sich einen Spezialisten – auch wenn er weit entfernt vom Wohnort praktiziert. Das heißt, wir brauchen eine klare Aufteilung: Welche Versorgung ist wohnortnah notwendig? Und welche Fälle sind besser bei einem Spezialisten aufgehoben? Daran müssen wir dann auch das Vergütungssystem anpassen. Ein Krankenhaus mit Basisversorgung muss so zum Beispiel auch einfach dafür vergütet werden, dass es für Notfälle bereitsteht.

06.12.2021    Maya Timmann
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