Fliegende Autos über einer futuristischen Stadt
22.10.2021    Madeline Sieland
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Der Mensch hat ein Problem. Technologie verändert sich inzwischen so schnell, dass das Gros der Menschen davon überfordert ist. Der Grund dafür: Über Jahrtausende verlief Fortschritt linear; die Welt hat sich über ­Generationen hinweg kaum verändert. Nun entwickelt sich alles exponentiell in einer rasenden Geschwin­digkeit weiter. Und an diese Geschwindigkeit ist das menschliche Hirn – noch – nicht gewöhnt.

„Wir bevorzugen Stabilität“, sagt Bernhard Palm, CEO des Telekommunikationsunternehmens NetCom BW. „Aber wir müssen uns jetzt auf eine sehr instabile Zeit einstellen, eine Zeit, in der ständig neue Dinge entstehen.“ Gemeint sind Dinge, die ganze Industrien auf den Kopf stellen können, vielleicht sogar die gesamte Gesellschaft. Flugtaxis zum Beispiel würden grundlegend neue Möglichkeiten der Mobilität schaffen. Lebensmittel aus dem 3-D-Drucker könnten unser aller Einkaufs- und Ernährungsgewohnheiten ver­ändern. Und hoch präzise Roboterchirurgen weisen den menschlichen Arzt – zumindest am OP-Tisch – schon heute teils in seine Schranken.

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Eine Technologie allein reicht nicht

Das alles sind Technologien, die nicht von heute auf morgen entstehen. Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte der Forschung und Entwicklung waren nötig, um den Status quo zu erreichen. Und damit auch Geduld und Durchhaltevermögen – wie Peter H. Diamandis betont. Denn: „Fortschritt ist zu Beginn langsam, trügerisch langsam“, sagt der US-Amerikaner. Exponentielles Wachstum braucht anfangs seine Zeit – ehe eine Technologie plötzlich scheinbar von heute auf morgen ihr disruptives Potenzial offenbart.

Diamandis ist das, was man hierzulande einen Multiunternehmer nennen würde. Der 60-jährige Ingenieur und Arzt war an der Gründung von knapp 20 Firmen beteiligt – zuletzt am Impfstoffhersteller Covaxx in Brasilien. Er ist außerdem Mitgründer der Singularity University, der Kaderschmiede im Silicon Valley, sowie der XPrize Foundation. Die gemeinnützige Organisation ist immer auf der Suche nach bahnbrechenden Ideen, veranstaltet Innovationswettbewerbe. So lobte etwa Tesla- und Space-X-Chef Elon Musk mit XPrize im April ein Preisgeld von 100 Millionen Dollar für Technologieprojekte aus, die helfen, CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen.

Es ist ein hochgestecktes Ziel, aber – wenn man Diamandis glaubt – auch ein erreichbares. Denn Technologiekonvergenz macht inzwischen so ziemlich all das möglich, was bisher wie abgedrehte Visionen in Science-Fiction-Filmen wirkte. 

Mit Konvergenz gemeint ist die Kombination von zwei oder mehr Technologien, die sich bis dato getrennt voneinander entwickelt haben. Verbindet man sie miteinander, entstehen neue Ansatzpunkte für Produkte und Geschäftsmodelle. In der Folge werden die Menschen im nächsten Jahrzehnt mehr Fortschritte erleben als in den vergangenen 100 Jahren.

Dies ist die zentrale These des Buchs „The future is faster than you think“, das Diamandis gemeinsam mit dem Journalisten Steven Kotler geschrieben hat. Die McKinsey-Untersuchung „The top trends in tech“ stützt diese These – und zeigt zudem auf, in welcher Kombination von Technologien das größte Disruptions- und Innovationspotenzial liegt. 

Ein Blick in die Praxis

Welche Verbindung von Technologien besonders ­vielversprechend ist – das wollte die Redaktion des DUP UNTERNEHMER-Magazins auch von Firmenchefs, Wissenschaftlern und Digitalisierungsexperten wissen. „Virtuelle, also softwarebasierte 5G-Netze in Kombination mit Edge-Computing, einer Datenverarbeitung vor Ort. Davon profitiert vor allem das industrielle Internet der Dinge“, sagt etwa Thomas Magedanz von Fraunhofer FOKUS.

Für Sven Ehrmann, Head of Digital Products in der Firmengruppe Hoffmann + Krippner – das Unternehmen stellt elektronische Eingabesysteme her –, hat Sensorik in Verbindung mit Künstlicher Intelligenz (KI) Potenzial. Alexander Trommen, CEO der Agentur Apps­factory, hält die Kombination der Genschere CRISPR mit dem Quantencomputer für interessant. Langfristig birgt dieser ultraschnelle Rechner auch laut Jan Rodig, Partner Digital Performance bei der Beratung Struktur Management Partner, das größte Potenzial. „Aber mittelfristig ist aus meiner Sicht die Kombination von Internet of Things und KI besonders spannend.“ Und in den Augen von Philipp Polterauer, Leiter der zur Boston Consulting Group gehörenden Beratung INVERTO DigitalSolutions, sind – besonders mit Blick auf Lieferketten – Sensorik, Blockchain und Advanced Analytics nicht zu verachten. „Denn dadurch ließen sich Geschäftsprozesse effizienter gestalten und CO2-Emissionen vermeiden.“

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Rettet Technologie die Welt?

Als Treiber des beschleunigten technologischen Wandels betrachten die von DUP UNTERNEHMER befragten Experten zudem Open Source. Das ist absolut nichts Neues. Allerdings ist das Bewusstsein für das Potenzial der offenen Quellcodes, die von jedem modifizierbar sind, inzwischen ein anderes. Ein Grund: der Fachkräftemangel im IT-Bereich. Laut Digitalverband Bitkom setzen sieben von zehn Unternehmen auf Open Source. „Ich glaube sogar, dass zehn von zehn Firmen Open Source nutzen, es teils aber gar nicht wissen. Denn entsprechende Anwendungen sind mittlerweile weit verbreitet“, sagt Mathias Golombek, CTO des Datenbank-Software­anbieters Exasol.

Für Jan Denecke ist Open Source selbstverständlich: „Alles, was wir bis dato gebaut haben, basiert darauf. Das ist ein unglaublicher Treiber; man kann damit schnell seine Ziele erreichen. Denn wenn ich mithilfe von Open Source legoartig vorhandene Bausteine zusammensetze, bin ich schneller, als wenn ich bei null anfange“, sagt der CEO von twelve x twelve. Das Start-up hat einen Musikmarktplatz auf Basis von Non Fungible Token (NFT) geschaffen.

In zwei für die Menschheit besonders relevanten Bereichen wird sich die Entwicklung dank Technologiekonvergenz laut Diamandis und Kotler jetzt deutlich beschleunigen:

  • Longevity: In naher Zukunft könnte die Konvergenz von KI, Cloud-Computing, Quantencomputer, ­Sensoren, Big Data, Bio- und Nanotechnologie die durchschnittliche menschliche Lebensspanne auf weit über 100 Jahre erhöhen. 
  • Schutz des Planeten: Technologie wird helfen, die größten Herausforderungen unserer Zeit – unter anderem den Klimawandel, das Artensterben und den Zugang zu sauberem Wasser – zu bewältigen. Durch die Kombination von KI, Big Data, Sensoren und Satellitentechnik könnte die Menschheit po­tenzielle Bedrohungen überwachen und präventiv Maßnahmen ergreifen, um etwa Epidemien, Asteroideneinschläge und Waldbrände abzuwenden.

Das klingt doch alles nach schöner neuer Zukunftswelt – oder etwa nicht? Denn der Bestseller „The future is faster than you think“ zeigt zudem auch eindrücklich auf: Keine Branche wird vom durch Technologiekonvergenz beschleunigten Wandel verschont bleiben; die Auswirkungen auf Unternehmen sind weitreichend. Allerdings steht die Gesellschaft auch vor der eingangs bereits geschilderten Herausforderung: Wie kann es gelingen, die exponentielle technische Entwicklung mit der linearen menschlichen Vorstellungskraft zusammen­zuführen?

Das richtige Mindset ausbilden

Mit Capability-Building, dem erlebnisbasierten Lernen. Darin sieht Polterauer einen zentralen Lösungsansatz: „Capability-Building fängt für mich ganz oben an. Die Aufsichtsräte und Vorstände brauchen ein Verständnis dafür, was heute technisch bereits möglich wäre. Denn nur wer das verinnerlicht hat, kann daraus auch Ableitungen für die Gesamtstrategie treffen und Investitionen etwa in die Ausbildung und in neue Produkte planen.“

Eine langfristige Mindset-Veränderung kann laut Ehrmann allerdings nur dann gelingen, wenn schon in jungen Jahren ein Verständnis für den Wandel geschaffen wird. Er betont: „Wir müssen massiv in die Ausbildung – vor allem von jungen Menschen – investieren. Digitalisierung wird heute in Schulen zu wenig thematisiert.“ 

Exasol-CTO Golombek pflichtet bei: „Wir haben eine Digital-Natives-Studie mit Jugendlichen gemacht. Dabei haben wir festgestellt, dass sie erstaunlich wenig über die digitale Welt, über Daten und über die Kompetenzen wissen, die morgen gebraucht werden. Dagegen muss die Politik – auch die europäische – etwas tun.“

Technologie kann auch simpel sein

Was zudem helfen kann, Berührungsängste zu nehmen: Mitarbeitenden zeigen, dass Software nichts Kompliziertes sein muss. Und das geht etwa mithilfe von Low Code – einer Entwicklungsumgebung für Software, die mit visuellen Werkzeugen statt textbasierten Programmiersprachen arbeitet. „Das nimmt Software­entwicklung ein wenig die Exklusivität“, sagt Digitalisierungsberater Rodig. „Denn es macht das Thema der breiten Masse zugänglich.“ Laut der Studie „State of Low-Code 2021“ von der Siemens-Tochter Mendix nutzen 69 Prozent der deutschen IT-Führungskräfte und Entwickler Low Code – mehr als die Hälfte auch für komplexe unternehmenskritische Bereiche.

Ein großer Vorteil von Low Code: Damit lassen sich laut der Studie quasi zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Denn der Bedarf an individueller Unternehmenssoftware wachse derzeit viel schneller als die weltweit verfügbaren Programmierkapazitäten.

Und Software – davon ist Polterauer überzeugt – birgt für Unternehmen das größte Potenzial, wenn sie langfristig am Markt bestehen wollen. Denn beim Blick auf die Ausgaben von Venture-Capitalists sei ihm aufgefallen, dass diese um Hardware mitunter einen großen Bogen machen. „Das ist auch einer der Gründe, warum Virtual-Reality-Brillen, die aus meiner Sicht eine fantastische Technologie sind, sich nur langsam weiterentwickeln. Denn das ist eine sehr komplexe, teure Hardware“, sagt Polterauer. Bei Software sei die Skalierbarkeit eben besser. Mit Blick auf das Morgen heißt das: Schnell Erfolg haben wird die Technologie, die sich am besten kommerzialisieren lässt.  „Wir alle wünschen uns fliegende Taxis. Aber die sind eben nicht so einfach zu kommerzialisieren.“

22.10.2021    Madeline Sieland
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