aus einem Mundschutz wurde ein Boot geformt
16.05.2023
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Die schlechte Nachricht gleich zu Beginn: Das Coronavirus gehört jetzt zu unserer Gesellschaft wie eine normale Erkältung oder die Grippe. Expertinnen und Experten würden es so ausdrücken: Es etabliert sich langfristig als endemisches Virus. Was das für unsere Zukunft heißt? Covid-Infektionen zirkulieren auch im Jahr 2030, nach dem Abklingen der aktuellen Pandemie – da sollten wir uns nichts vormachen. Wir werden also auch in sieben Jahren von schweren Verläufen hören und Todesfälle beklagen.

Aber: Es werden weniger sein als heute. Mit zunehmender Zeit nach dem Ausbruch einer Pandemie und mithilfe von Impfungen erreicht die Bevölkerung eine gewisse Immunität. Und „gewisse Immunität“ bedeutet: weniger schwere Infektionen, seltenere Todesfälle. Das prinzipielle Risiko gefährlicher Verläufe bleibt jedoch bestehen, und hier muss die Wissenschaft bezüglich der Erkrankung Covid-19 – speziell für Risikogruppen und zur Vermeidung von Long Covid – noch deutlich mehr Lösungen finden.

Je digitaler die Abläufe, desto geringer die Gefahren

Viele Menschen beschäftigt Corona nach wie vor im Hier und Jetzt, und das ist nachvollziehbar. Wie gehen wir aber im Jahr 2030 damit um? Im Idealfall so: Patientinnen und Patienten mit ersten Symptomen und positivem Selbsttest loggen sich auf einer Behandler-Plattform ein. Danach kommt ein mobiles Einsatzteam vorbei, um einen Abstrich zu machen, der sofort an ein Labor geht.

Klingt bekannt? Ja. 2030 schlagen wir aber anschließend den beschleunigten digitalen Weg ein: Sobald das Ergebnis per E-Mail vorliegt, loggen sich Patientinnen und Patienten erneut auf der Plattform ein. Ein Spezialist schaut auf die elektronisch hinterlegte Gesundheitskarte und prüft, ob ein erhöhtes Risiko für die Erkrankte beziehungsweise den Erkrankten besteht. Lautet die Antwort Ja, wird schnellstmöglich per Rezept und Lieferdienst ein antivirales Medikament, das als Tablette wenige Tage lang eingenommen oder aber inhaliert werden kann, nach Hause geschickt.

Zeit ist immer ein extrem wichtiger Faktor in pandemischen Zeiten. Hohe Geschwindigkeit bedeutet ein geringeres Risiko einer Verbreitung, weil Erkrankte deutlich weniger Kontakt zu anderen Menschen haben. Und eine hohe Geschwindigkeit bedeutet für den Infizierten eine deutlich minimierte Gefahr, schwer zu erkranken oder zu sterben: Wenn man frühzeitig behandelt, kann sich das Virus im Körper nicht ausbreiten und damit weniger Schaden anrichten.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch Next.2030.

Wo steht Deutschland im Jahr 2030? Was muss passieren, damit das einstige Wirtschaftswunderland künftig international wettbewerbsfähig bleibt? Und wo lauern Gefahren auf dem Weg ins Übermorgen? 33 Vordenkerinnen und Vordenker aus Wirtschaft, Politik, Sport und Wissenschaft wagen im Buch „Next.2030“ – herausgegeben von der Professorin und Aufsichtsrätin Ann-Kristin Achleitner sowie von Hagen Rickmann, Geschäftsführer bei der Telekom Deutschland – eine Prognose.

DIND, 282 S., Hardcover 39,90 Euro, Taschenbuch 19,99 Euro, E-Book 17,99 Euro

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Antivirale Medikamente konsequenter nutzen

Der digitale Weg hat in der idealen Welt im Jahr 2030 auch einen Einfluss auf die Verbreitung anderer über die Luft übertragbarer viraler Erkrankungen – beispielsweise der Grippe. Medikamente, die das Grippe-Virus im Körper bekämpfen, gibt es heute bereits. Allerdings erfolgt ihr Einsatz spärlich und oft zu spät, sodass sie nicht ihre volle Wirkung entfalten können. Das muss sich ändern.

Dass konsequenter Einsatz antiviraler Medikamente keine Zukunftsmusik ist, sehen wir heute schon in Israel. Der Clalit Health Service wertete elektronisch gesammelte Gesundheitsdaten zur Behandlung von Corona-Patientinnen und -patienten aus. Das Ergebnis ist, dass die frühe Behandlung mit dem antiviralen Medikament Paxlovid das Erkrankungs- oder Todesrisiko der über 65-Jährigen während der Omikron-Welle in Israel sehr signifikant senkte.

Was wir daraus lernen: Wir müssen neu mit Pandemien umgehen. Denn: Wir werden zweifellos neue erleben.

Zoonosen sind und bleiben die größte Gefahr

Blicken wir ein paar Jahrzehnte zurück: Es gab immer wieder Ausbrüche von Erregern mit Pandemiepotenzial – beispielsweise in den 1980er-Jahren den Ausbruch von HIV, 2002/03 das erste SARS-Coronavirus, 2012 das MERS-Coronavirus. Wir sollten also auch in der Zukunft mit Ausbrüchen rechnen. Warum?

Lapidar gesagt, haben wir uns das selbst eingebrockt. Die Überbevölkerung, das Zusammenleben von Mensch und Tier auf oft engstem Raum verbunden mit schlechter Hygiene, Globalisierung, Migration, Massentourismus, Massentransport von Waren und von Tieren geben allen Erregern bisher ungekannte Chancen zur Ausbreitung und sind die Zutaten des tödlichen Cocktails, der zu neuen Pandemien führt. Wir brauchen nicht zu erwarten, dass sich daran bis 2030 etwas ändert. Auch nicht danach.

Ein Großteil der neu auftretenden Infektionskrankheiten mit Pandemiepotenzial werden auch künftig Zoonosen sein, also Erreger, die vom Tier auf den Menschen überspringen, und gegen die der Mensch keinen Immunschutz hat.

Werden wir 2030 mit dem Ausbruch solcher Pandemien besser umgehen können? Ja, wenn wir bis dahin konsequent vorgegangen sind. Idealerweise können wir in sieben Jahren auf bis dahin etablierte, internationale Datenbanken und ein internationales Überwachungssystem zurückgreifen, um neue Erreger schneller zu erkennen und vor allem ihre Wege durch die Menschheit durch systematisch gesammelte Proben in Echtzeit zu verfolgen.

Covid-19 kam nicht plötzlich

Glück sollte beim Ausbruch einer Pandemie jedenfalls keine große Rolle spielen. Die beiden Corona-Ausbrüche 2002/03 und 2012 hatten die Wissenschaft vorgewarnt; der 2019 auftretende, verwandte Corona-Erreger konnte sie nicht auf dem falschen Fuß erwischen. Als er auftrat, wussten wir bereits, gegen welche Virusstruktur ein Impfstoff ankämpfen muss, und gegen welches Virusenzym Medikamente entwickelt werden können.

Dazu kam ein weiterer historischer Glücksfall: Die mRNA-Technik, aber auch Vektor-Impfstoffe waren zur Reife gelangt, wir brauchten quasi „nur noch“ die genetische Information von SARS-CoV-2, um einen Impfstoff zu entwickeln – und die stand in kürzester Zeit zur Verfügung und wurde weltweit geteilt. Diese Konstellation ermöglichte eine Reaktion in Rekordzeit und führte zu höchster Anerkennung für diejenigen, die fähig waren, diese Erkenntnisse so schnell und so erfolgreich in Impfstoffe umzusetzen.

Machen wir uns nichts vor: Ein völlig neuer Erreger-Typ hätte dagegen verheerende Folgen haben können – und die Entwicklung eines Impfstoffs oder von Medikamenten hätte sehr wahrscheinlich deutlich länger gedauert, als es dieses Mal der Fall war.

Wie gehen wir also 2030 mit Faktoren wie Glück und Pech um?

Grundlagenforschung muss von der Politik gefördert werden

Hier kommen die Regierungen ins Spiel. Sie sollten bis 2030 idealerweise dafür gesorgt haben, dass Grundlagenforschung und klinische Weiterentwicklung konsequent unterstützt werden, dass also Corona und andere Pandemie-Erreger im Laufe der Jahre auf der Agenda nicht nach unten rutschen, weil sie immer weniger bedrohlich erscheinen. Denn das könnte ein tödlicher Fehler sein.

Die Politik darf nicht locker lassen. Sie muss außerdem dafür sorgen, dass wir Vorräte möglichst breit wirksamer, antiviraler Medikamente anlegen, um schnell auf zukünftige Pandemien reagieren zu können. Wichtig ist auch die systematische, repräsentative Erhebung von Daten, unter anderem zur Dauer der Impfwirksamkeit und der Wirksamkeit von Medikamenten, die schnelle Etablierung elektronischer Register und deren Auswertung.

Insbesondere die Medikamentenentwicklung dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Sie wird 2030 ein genauso wichtiger Faktor sein wie die Impfstoffentwicklung und die Entwicklung schneller diagnostischer Verfahren. Denn: Niemand kann voraussagen, ob die Erreger der Zukunft eher mit der Spritze oder mit der Tablette bekämpft werden können. Die Vergangenheit hat zum Beispiel gezeigt, dass es gegen manche Bedrohungen trotz jahrzehntelanger intensiver und milliardenschwerer Forschung gar keine Impfung gibt. Das ist etwa beim Aids-Erreger HIV der Fall oder beim Hepatitis-C-Virus, das schwere Leberentzündungen, Leberzirrhose und Leberkrebs auslösen kann.

Wir werden bis 2030 hoffentlich wissen, ob für HIV und Hepatitis C die mRNA-Technologie einen Unterschied macht und ob wir dann auch Impfstoffe gegen diese Erreger haben. Bislang können wir diese Viren nur über Medikamente in Schach halten – wobei das bei beiden hervorragend funktioniert und die ansonsten lebenslange Hepatitis-C-Infektion heute sogar heilbar ist. Hätten wir gegen HIV und Hepatitis C bei der Forschung nur auf Impfstoffe gesetzt, stünden wir gegen diese Erreger bis heute mit leeren Händen da.

Wir müssen vorbereitet sein!

In meiner perfekten Welt im Jahr 2030 ist all das Geschriebene bereits geschehen. Und mehr. Der Staat sichert mit seinen Fördermitteln Zugang zu Hochsicherheitslaboren, Zellsystemen oder Tiermodellen. Geld für entsprechend geschultes Personal steht zur Verfügung. Ein Gremium aus Expertinnen und Experten sowie Entscheidungsträgerinnen und -trägern ist verantwortlich, um Empfehlungen für die Ziele der Medikamenten-, Impfstoff- und Diagnostikentwicklung zu geben. Und eine weitere Institution organisiert und koordiniert die Umsetzung dieser Empfehlungen. 2030 greift ein Rädchen ins andere.

In der EU (HERA, seit 2021) und in den USA (BARDA, seit 2006) gibt es übrigens bereits staatliche Strukturen, die die Aufgabe haben, Gesundheitskrisen zu vermeiden, zu erkennen und schnell auf sie zu reagieren. HERA soll die Entwicklung, Produktion und Verteilung von Medikamenten, Impfstoffen und anderen Gegenmaßnahmen (etwa Handschuhe und Masken) sicherstellen. Der Name ist die Abkürzung von „Health Emergency Preparedness and Response“; das ist ein neues Directorate General innerhalb der Europäischen Kommission.

Aber nicht nur der Staat ist in meiner idealen Welt 2030 besser auf neue Pandemien vorbereitet. In Unternehmen gehört es zum Tagesgeschäft, Krisen „einzuplanen“ und ein Wissen über die Bedrohung auch durch Pandemien bereitzuhalten, sie seismografisch, also so früh wie möglich zu registrieren.

In meiner idealen Welt 2030 steht der Technologietransfer plus Ausgründung neben den klassischen zwei Säulen Forschung und Lehre an deutschen Universitäten als dritte wichtige Säule universitärer Aufgaben gleichberechtigt im Fokus – mit der Folge, dass wir auf eine blühende Landschaft aus innovativen Firmen mit biotechnologischen Lösungsansätzen blicken. Diese deutlich neue Zielsetzung an Universitäten, die gekoppelt sein muss mit viel stärkerer staatlicher Förderung von Investitionen in diese Firmen (etwa über steuerliche Anreize), wird den Standort Deutschland kompetitiv und innovativ machen. Aber auch bereits etablierte Firmen werden in die Zukunftsstrategie eingebunden sein.

Was ich damit sagen will: Wir sind einigermaßen gut durch diese Pandemie gekommen, aber wir können uns nicht darauf ausruhen. Ein langer und schwieriger Weg liegt bis 2030 vor uns. Wir brauchen eine international eingebettete Strategie zur Unterstützung der nationalen Forschung, auch auf dem Gebiet der Medikamente. Umfassende Grundlagenforschung und Einbindung der gesamten forschenden Industrie mit jungen und etablierten Firmen und ohne Berührungsängste muss längst Tagesgeschäft sein, wenn die nächste Pandemie auf uns zurollt. Und das wird sie.

Zur Person

Porträt von Helga Rübsamen-Schaeff

Professor Helga Rübsamen-Schaeff

ist Chemikerin, Virologin, Managerin und Gründerin. Die Professorin für Biochemie und Virologie an der Universität Frankfurt ist Mitglied des Aufsichtsrats von AiCuris, Merck und 4SC. 1995 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. 2018 wurden sie und ihr Team für die Entwicklung eines Medikaments gegen das Cytomeglie-Virus mit dem Zukunftspreis des Bundespräsidenten ausgezeichnet

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16.05.2023
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