Ist Armut ein Gesundheitsrisiko?
06.04.2022    Madeline Sieland
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Wer sich nicht wohlfühlt, geht zum Arzt. So handhabt es die überwiegende Mehrheit der Menschen in Deutschland. Aber eben nicht alle. „Ich glaube, dass wir für bestimmte Teile der Bevölkerung auch so etwas wie ein aufsuchendes System brauchen“, sagt Karl-Josef Laumann, Gesundheitsminister von Nordrhein-Westfalen. Ein Gesundheitssystem also, das in manchen Fällen zur Patientin beziehungsweise zum Patienten kommt und nicht umgekehrt. Wie das in der Praxis aussehen kann – darüber diskutierte Laumann im Videocast „Sprechzeit – Der Gesundheitstalk“ mit Günter Wältermann, Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg.

Zur Person

Karl-Josef Laumann, Gesundheitsminister aus NRW

Karl-Josef Laumann

Der CDU-Politiker ist seit 2017 Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen

Zur Person

Günter Wältermann, Chef der AOK Rheinland/Hamburg

Günter Wältermann

ist seit 2012 Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg

Gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen den persönlichen Lebensumständen und dem Gesundheitszustand eines Menschen?

Thumbnail Videocast "Sprechzeit – Der Gesundheits-Talk"

Mehr im Talk: Sehen Sie jetzt das gesamte Gespräch von Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann und Günter Wältermann, Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg, im Videocast „Sprechzeit – Der Gesundheitstalk“

Karl-Josef Laumann: Es ist bekannt, dass Menschen, die beispielsweise in der Grundsicherung leben, eine kürzere Lebenserwartung haben und häufiger chronisch krank sind. Und unser größtes Problem in der Gesundheitspolitik ist, dass wir mit Präventionsangeboten bestimmte Bevölkerungskreise gar nicht erreichen. Selbst über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erreichen wir nicht unbedingt alle Gruppen, die wir erreichen müssten.

Günter Wältermann: Armut ist ein Gesundheitsrisiko. Ich glaube, daran gibt es nichts zu deuteln. So haben wir während der Pandemie gemeinsam mit Professor Nico Dragano von der Universität Düsseldorf belegen können, dass an Corona erkrankte Langzeitarbeitslose ein signifikant höheres Risiko für einen Krankenhausaufenthalt haben.

Inwieweit könnten Krankenkassen zu einem größeren Gesundheitsbewusstsein bei Menschen mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status beitragen?

Wältermann: Die Gesundheitskompetenz hat mit den Lebensumständen zu tun. Also damit, ob jemand einen Job hat oder in welchem Umfeld er lebt. Und damit, welche finanziellen Mittel zur Verfügung stehen. Das sind natürlich Faktoren, die wir als Krankenkasse nicht beeinflussen können. Das zu ändern ist vielmehr eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dennoch engagieren wir als AOK Rheinland/Hamburg uns hier, zum Beispiel durch die Einrichtung sogenannter Gesundheitskioske – zunächst in Hamburg-Billstedt/Horn, demnächst auch in Aachen, Essen, Solingen und Krefeld. Wir wollen damit einen niedrigschwelligen Zugang zur Gesundheitsversorgung schaffen. Das Personal ist mehrsprachig, in den Gesundheitskiosken wird interdisziplinär gearbeitet, und sie sind gut mit den medizinischen Einrichtungen in der Umgebung vernetzt, sodass man Patientinnen und Patienten zur Weiterbehandlung in die reguläre Versorgung überführen kann.

Laumann: Ich finde die Idee hinter den Gesundheitskiosken gut – also direkt in die Stadtteile zu gehen, in denen vulnerable Gruppen leben. Auch im Rahmen unserer Corona-Impfkampagne haben wir in bestimmten Stadtvierteln spezielle Impfangebote mit einem niedrigschwelligen Zugang gemacht. Unser Gesundheitssystem funktioniert für viele Menschen, die in die Arztpraxis gehen, wenn sie sich nicht wohlfühlen, sehr gut. Aber ich glaube, dass wir für bestimmte Teile der Bevölkerung auch ein anderes System benötigen. Daher unterhalten in Nordrhein-Westfalen beispielsweise auch Hilfsorganisationen Praxen für obdachlose Menschen sowie für Menschen, die keinen Versichertenstatus haben.

Die Digitalisierung verändert das Gesundheitswesen aktuell rapide. Aber wie kann sichergestellt werden, dass auch alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen von der zunehmenden Digitalisierung des Gesundheitssystems profitieren?

Laumann: Also von der Digitalisierung können ja nur diejenigen profitieren, denen auch digitale Angebote gemacht werden. Wichtig ist es, digitale Angebote dort, wo sie sinnvoll sind, jetzt auch in die Regelversorgung zu überführen und sie nicht nur projektbezogen zu unterbreiten. Grundsätzlich bietet uns die Digitalisierung zwei große Möglichkeiten: Zum einen wird Fachwissen räumlich unabhängig gemacht, was Menschen – etwa mit seltenen Erkrankungen – lange Wege zu den auf ihr Leiden spezialisierten Arztpraxen erspart; zum anderen erleichtert sie die sektorenübergreifende Versorgung. Aber was mir wichtig ist: Wir müssen sicherstellen, dass auch Bürgerinnen und Bürger, die nicht so gut mit der digitalen Welt, mit E-Mails, Internetrecherchen und Online-Formularen umgehen können, weiterhin barrierefreien Zugang zu allen Leistungen haben, die unser Gesundheitssystem bietet.

06.04.2022    Madeline Sieland
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