Porträt von Sigmar Gabriel
29.04.2020    Charlotte Reuscher
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und weiteren Experten – darunter Wilfried Eberhardt, CMO und Aufsichtsrat bei Kuka, Dr. Andrea Timmesfeld, Head of Public Affairs & Community Engagement bei der Generali Versicherungsgruppe sowie Brigitte Zypries, Wirtschaftsministerin a.D. und Herausgeberin des DUB UNTERNEHMER-Magazins – sowie mehr als 160 Call-Teilnehmern, um über folgende Fragen zu diskutieren:

Öffnung versus Shutdown: Werden Wirtschaft und Gesundheit gegeneinander ausgespielt?

Nach dem strengen Shutdown der ersten Wochen greifen aktuell bereits erste Lockerungen, manche Geschäfte dürfen wieder öffnen. Wirtschaft und Gesundheit als zwei verschiedene Komponenten zu betrachten, mache aber, so Sigmar Gabriel, keinen Sinn: „Trotz aller Kritik haben wir hier in Deutschland ein gut funktionierendes Gesundheitssystem – auch, weil wir es uns leisten können. Wenn wir jetzt unsere Wirtschaft zu stark gefährden, gefährden wir damit auch das Gesundheitssystem. Und das gilt auch andersherum: Wenn wir jetzt unvorsichtig werden und die befürchtete zweite Infektionswelle kommt, sind nicht nur alle gesundheitspolitisch erreichten Erfolge dahin, sondern dann ist auch die vielzitierte finanzpolitische Bazooka leer, und es kann keine weiteren Hilfen für die Wirtschaft geben. Gesundheit gegen Wirtschaft ist daher eine idiotische Diskussion.“

Weitere Lockerungen – oder zumindest die Aussicht darauf, seien trotzdem unabdingbar: „Wenn Sie einem Land mit 83 Millionen Einwohnern keine Hoffnung geben, hat das irgendwann unbeherrschbare psychologische Folgen.“

Wird die globalisierte Wirtschaft wie wir sie kennen, weiter bestehen bleiben?  

Seit Beginn der Corona-Krise stehen die international teils sehr kleinteilig organisierten Lieferketten unter Druck: „Wir sehen“, so Gabriel, „eine Entkoppelung der Wertschöpfungsketten. Zwar fasst China wirtschaftlich gerade wieder Tritt, die Rückkehr der Produktion wird aber noch ein wenig dauern. Ich denke, es wird in Richtung De-Globalisierung gehen. Denn die jetzt massiv zunehmende Digitalisierung hierzulande wird die Verlagerung der Produktion in andere Ländern weniger nötig machen, und die Arbeit im eigenen Land wird gefördert. Stärker betroffen seien dagegen ärmere Länder“, sagt Gabriel.

„Sie werden von der Pandemie viel härter getroffen. Nicht nur wegen der schlechteren Gesundheitssysteme, sondern auch, weil Hunger droht – insbesondere für Kinder, deren einzige Mahlzeit am Tag das Mittagessen in der Schule ist. Und in Ländern, die gerade eine Mittelschicht aufgebaut hatten, bedeutet ein Rückfall in Armut oft Gewalt und Gefährdung der Demokratie.“ Überall auf der Welt gelte: „Corona wirkt wie Brandbeschleuniger, was vorher schon problematisch war, kommt jetzt richtig ans Licht: So wird der, wie ich ihn nenne, Kalte Krieg 2.0 durch Corona verstärkt, ebenso wie die Konflikte im Nahen Osten. Nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die politischen und geopolitischen Folgen von Corona werden uns noch lange beschäftigen.“

Halten Sie eine Abwrackprämie für sinnvoll, um die Autoindustrie zu stärken?

Dies Frage stellte Wilfried Eberhardt, CMO und Aufsichtsratsmitglied des Robotik- und Automatisierungsvorreiters KUKA AG und fügte hinzu: „Ich sehe die Corona-Krise insgesamt als Chance, die auch Impulse für nachhaltige Veränderungen mit sich bringt. So eröffnen sich uns gerade auch neue Themen und Geschäftsmodelle, etwa durch Automation und lokale Fertigung, die Automatisierung im stark wachsenden E-Commerce oder auch im Healthcare-Bereich. Aber 50 Prozent unseres Geschäfts finden im Bereich Automotive statt – da würden wir uns ein Licht am Ende des Tunnels schon wünschen.“

Sigmar Gabriel hat dafür eine klare Bedingung: „Abwrackprämien sind für mich nur denkbar, wenn nicht gleichzeitig Dividenden gezahlt werden – alles andere finde ich moralisch schwer zu erklären.“

Was halten Sie von Mehrwertsteuersenkungen?

„Ich meine, das ist gerade im Hotel- und Gaststättengewerbe eine gute Idee. Dieser Sektor ist einer der am härtesten von der Krise betroffenen. Und ich habe sowieso nie verstanden, warum das gleiche Brot im Restaurant anders besteuert wird als im Supermarkt.” Generell müsse es darum gehen, die Kaufkraft in Deutschland zu stützen: „Alles, was die Nachfrage stärkt, ist wirtschaftspolitisch richtig.“

Geisterspiele in der Bundeliga ab Mai – was sagen Sie dazu?

„Solange die Ausstattung mit Corona-Tests garantiert ist, sehe ich nicht, was dagegen spräche“, sagt Werder-Bremen-Mitglied Sigmar Gabriel. Er könne die Unternehmen, die vom Fußball leben, gut verstehen – sie sollten nicht anders behandelt werden als andere Unternehmen auch.

Die Lufthansa zählt zu den größten Verlierern in der Corona-Krise. Sollte der Staat sie unterstützen?

Geordnete Insolvenz oder Hilfe vom Staat: Die Lufthansa steht am Scheideweg. „Letztlich muss das Unternehmen selbst entscheiden, was es will, sagt Sigmar Gabriel. Vor allem müsse die Rolle, die der Staat im Unternehmen spiele, geklärt werden „Im operativen Geschäft hat der Staat nach meinem Dafürhalten nicht zu suchen – im Aufsichtsrat aber sehr wohl.

Was den ehemaligen Minister auch beschäftigt „Aktuell werden oft große gegen kleine Unternehmen ausgespielt, nach dem Motto ‚den Großen wird geholfen, die Kleinen gehen leer aus’. Das halte ich für kontraproduktiv und auch unsinnig: Ohne die großen Unternehmen gäbe es auch die Keinen nicht.“

Deutschland – China – USA: Werden wir in Sachen Digitalisierung mithalten können?

Apple, Google, Huawei – die digitalen Schwergewichte finden sich in China und den USA, nicht aber in Europa. „Die zunehmende Digitalisierung hierzulande trifft auf die Rivalität zwischen China und den USA – es stellt sich die Frage, mit wem wir technologisch gehen wollen. Grenzen wir Huawei aus? Dann könnte China uns den Zugang zu seinem Automobilmarkt erschweren. Wir müssen eine gemeinsame europäische Haltung zu China entwickeln – das sehe ich als eine der größten Herausforderungen der kommenden Zeit. Denn wenn wir nicht aufpassen, werden wir zur verlängerten Werkbank“, so Gabriel.

Was braucht der deutsche Mittelstand, um durch die Krise zu kommen?

Umsatzeinbrüche, Liquiditätsengpässe – der deutsche Mittelstand ist von der Krise gebeutelt. Aber nicht nur das: „Die Angst vor dem Virus wandelt sich in Enttäuschung über fehlende klare Ansagen und willkürliche Lockerungen vonseiten der Politik“, sagt Sarna Röser, Bundesvorsitzende „DIE JUNGEN UNTERNEHMER“.

„Es muss jetzt etwas passieren. Wir müssen zu den Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft zurückfinden. Dabei sind vier Punkte besonders wichtig: Erstens, neue Prioritäten setzen, zweitens, den Investitionsstau auflösen, drittens, die Digitalisierung weiter vorantreiben und viertens, mehr Mut zur Eigenverantwortung aufbringen. Nach Corona brauchen wir einen schlanken Staat und mehr Marktwirtschaft statt Staatswirtschaft.“

Kann Deutschland Digitalisierung?

„Ja“, sagt Frank Thelen, Tech-Investor und Seriengründer. „Wir sehen gerade: Wir können doch Digitalisierung! Offenbar waren wir vorher nur zu bequem – und haben dadurch die große Technologiewelle verschlafen. Jetzt geht ein Ruck durchs Land, eine große Chance. Gleichzeitig sind wir, was Hard- und Software angeht, sehr abhängig von amerikanischen Produkten – zum Beispiel der Plattform, die wir gerade für diesen Video-Call benutzen. Ich bin erschüttert, wie viel Geld in die Lufthansa-Rettung gesteckt werden soll – und was davon der Digitalisierung fehlt! Es muss mehr in Technologie investiert werden – da braucht es gerade einen Mut, den ich in Deutschland nicht sehe. Gleichzeitig muss die Nutzung von Daten vorangetrieben werden – die uns in der Krise schon hätten helfen können, zum Beispiel mit der Koordination von medizinischen Kapazitäten oder auch der schnellen Entwicklung einer Tracking-App.“

Sarna Röser bemängelt vor allem die immer noch unzureichende digitale Infrastruktur: Viele Mittelständler sind nicht in den großen Städten, sondern eher in ländlichen Gebieten ansässig. Solange der Breitbandausbau nicht vorankommt, kann dort die Digitalisierung nur begrenzt vorankommen. Gleichzeitig sehe ich aber bei vielen Mittelständlern, dass auch sie durch die Krise viel digitaler geworden sind. Wir können es – man muss uns nur lassen.“

Was muss die deutsche Wirtschaft nach der Krise anders machen?

Nach der Krise ist während der Krise(n) – so sieht es zumindest Frank Thelen: „Momentan befinden wir uns bereits in zwei schlimmen Krisen: Der Klimakrise und der Technologiekrise, denn wir sind in diesem Bereich abgehängt. Im Gegensatz zu Corona werden die Auswirkungen aber erst später zutage treten. Die Digitalisierung ist die Basis dafür, bei der nächsten Technologiegeneration mithalten zu können – daher müssen wir hier jetzt investieren – zum Beispiel in Quantencomputer, Hyperloops und auch in grüne Energien.“

29.04.2020    Charlotte Reuscher
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