Uhrenvertrieb: Tradition geht auch digital.
10.03.2022    Jan Lehmhaus
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Sie sind spät dran. Die Unternehmen der Schmuck- und Uhrenbranche, die dauerhafte Werte verkaufen, traditionelles Handwerk gegen schnelle Massenware setzen und damit auch die Ideale einer guten alten Zeit hochhalten, taten sich lange schwer mit moderner Informationstechnik. Erst vor wenigen Jahren begann die gründliche Digitalisierung der Hersteller wie des Handels; in der Pandemie wurde sie dann enorm beschleunigt.

Stephan Lindner ist Präsident des Bundesverbands der Juweliere, Schmuck- und Uhrenfachgeschäfte (BVJ), der über 8.000 Einzelhandelsunternehmen vertritt. Er sagt: „Die Zahl der Online-Shops hatte in den vergangenen Jahren bereits stark zugenommen. 2020 entstanden dann sehr schnell viele Shop-Lösungen.“ Deren prozentualer Umsatzanteil bewege sich zwar häufig im niedrigen einstelligen Bereich, aber der Kanal habe einen anderen Wert: „Er sorgt für Wiedererkennbarkeit und Relevanz, steigert die Kommunikation. Es geht auch um den Aufbau von Vertrauen, nicht nur um Verkauf.“

Partnerschaft zwischen Uhrenherstellern und Händlern bröckelt

Der Online-Verkauf findet tatsächlich auch woanders statt. Die Uhrenhersteller, große wie kleine, entdeckten das Internet als heißen Draht zum Verbraucher und als weiteren, direkten Vertriebskanal. Zwar haben bislang nur wenige den Einzelhandel ganz verlassen und setzen jetzt ausschließlich auf Online-Vertrieb sowie eigene Boutiquen.

Doch bei vielen Marken wurden während der Lockdowns die Online-Shops erheblich ausgebaut und Märkte zugänglich gemacht, die bis dahin dem stationären Handel vorbehalten waren. Die bewährte Partnerschaft von Herstellern und Händlern hat deutliche Risse bekommen. „Im E-Shop der Hersteller bekommt der Käufer zum Teil Uhren, die der Einzelhändler, der ein Sortiment für mehrere Hunderttausend Euro vorhält, gar nicht kaufen kann“, erklärt Lindner. Er glaubt dennoch nicht daran, dass das Konzept aufgeht: „Da zeigen manche Produzenten, wer das Sagen hat, und vergessen, dass ihre Visibilität nachlässt.“

Das Comeback der Uhrenmessen

Notwendigerweise digitalisiert wurde in Zeiten schwächelnder und zuletzt immer wieder abgesagter europäischer Fachmessen auch der Einkaufsprozess. „Schließlich muss man sich die Präsentationen nun online ansehen. Und es ist nicht leicht, sich dabei den Spaß zu erhalten“, so Lindner. „Es fehlt die Haptik genauso wie die kleinen nebenher erzählten Geschichten, die man an den Kunden weitergeben kann.“

Elena Jasper, Projektleiterin der Münchner Messe Inhorgenta, bestätigt die Bedeutung der persönlichen Begegnung: „Je länger die Pandemie dauert, desto mehr wollen die Menschen wieder den direkten Austausch von Angesicht zu Angesicht.“ Darum wurde die diesjährige Veranstaltung nicht virtuell umgesetzt, sondern als physisches Event vom Februar in den April verschoben.

Klar sei aber zugleich, dass es weiterhin digitale Ergänzungen geben werde: „Die Digitalisierung ist auch für die Schmuck- und Uhrenbranche ein essenzielles Thema, das sich deshalb durch die ganze Messe ziehen wird, sei es durch die Ausstellung oder das Konferenzprogramm“, erklärt Jasper. In Anlehnung an die Bürowelt könnte man wohl von einem hybriden Ansatz sprechen, einer Mischung aus Präsenz und Remote-Formaten.

Uhren mit Bitcoins zahlen

Manche Marke setzt das Digitalisierungsthema inzwischen auch werblich ein – als reizvollen Kontrast zum mechanischen Produkt. Beispiel Chronoswiss: Das Unternehmen war wohl das erste, das eine Bezahlung per Bitcoin ermöglichte. Hanhart wiederum versteigerte ein Uhren-NFT – immerhin mit der Option, den in der Datei abgebildeten Zeitmesser tatsächlich bauen zu lassen.

Die Abkürzung NFT steht für Non-Fungible Token. Tokens sind digitalisierte Verbriefungen von Vermögenswerten, seien es Kunstwerke oder eben Uhren. Non-Fungible wiederum bedeutet, dass sie nicht ersetzbar sind, eben einzigartig.

Manche Hersteller gehen andere Wege und bauen neue digitale Brücken zu ihren Einzelhandelspartnern. Junghans etwa begrüßte seine Konzessionäre im vergangenen Jahr in einem „Virtual Brand Space“, einem digitalen Messestand. „Die Branche hat an den Händlern schon viele Formate ausprobiert“, erklärt Junghans-Geschäftsführer Matthias Stotz. „Darum wollten wir keine Standardlösung, keinen beliebigen virtuellen Raum, sondern einen Nachbau unseres Inhorgenta-Messestands. Die Juweliere sollten gleich denken: ‚Das sieht ja aus wie München.‘“

Virtual Brand Space: der digitale Messestand

Die Programmierung nahm dann tatsächlich ein Messebauer vor; das Team um Stotz legte sorgfältig den Weg für den Rundgang über den Stand fest und trainierte – natürlich virtuell – die Distributeure und Verkaufsteams darin, die Juweliere live von Vitrine zu Vitrine zu führen. „Das ist auch eine Frage der Dramaturgie: In welcher Reihenfolge stellt man vor? Wir wollen damit ja Begeisterung vermitteln“, erklärt Stotz.

An den einzelnen Stationen bekamen die Händler und insgesamt mehrere Hundert Besucher Einspielfilme zu sehen sowie bewegte „Wristshots“ der neuen Modelle. Und sie orderten schrittweise, ganz wie auf den herkömmlichen Messen. „Digitale Starthilfe mussten wir hier und da schon leisten. Nach der digitalen Führung waren die Händler sehr positiv überrascht. So positiv, dass sie bereits die Sorge hatten, wir würden künftig ganz auf Messen verzichten“, hat der Junghans-Chef beobachtet. Da konnte er die Kunden beruhigen: Dieses Jahr stehen für die Marke stationäre Messen im Fokus. „Persönliche Treffen bleiben wichtiger“, ist sich Stotz sicher.

Aber es sind auch weitere Einsätze für den Brand-Space geplant. Denn der sei nicht nur eine Ersatzlösung, sondern für eine unterjährige Akquise eine vollwertige, sehr effiziente Ergänzung. Und Stotz denkt schon weiter: „In einer neuen Ausbaustufe könnte man Dinge zeigen, die man in echt nicht darstellen kann – ein mutigeres Format.“

Digitales Ladengeschäft

Nomos hingegen setzt auf eine Digitalisierung im Ladengeschäft. Zwar ist der Online-Anteil am Umsatz des Unternehmens inzwischen auf etwa 15 Prozent gestiegen – aber vor allem in Regionen, in denen das Händlernetz nicht sehr dicht sei, erklärt Geschäftsführerin Judith Borowski. „Überall sonst ist uns der Fachhandel heilig, den wollen wir fördern.“ Dafür hat Nomos ein Terminal mit Vitrine und großem Monitor entwickelt, an dem die Konzessionäre zusammen mit dem Kunden das Wunschmodell auswählen, zusammenstellen und sofort bestellen können: „Zur Lieferung am nächsten Tag, nach Hause oder wahlweise ins Geschäft, vielleicht zu einem weiteren Glas Champagner.“

Solche Verknüpfungen funktionierten auch anderswo, sagt Borowski: „Möbel- und Autohäuser machen das genauso: Das Sofa ist ausgestellt, der Bezugsstoff wird vor Ort mithilfe des Verkäufers online ausgewählt. Der Besuch beim Händler hat Vorzüge, die sich online nicht erreichen lassen. Das Anschauen, Anfühlen und das vertrauensvolle Gespräch: Was passt ans Handgelenk?“

Igittigitt! Online?

Wenn der Kunde das Grundmodell kennenlerne, könne er die Details, wie zum Beispiel Zifferblattfarbe, Datum oder Band, gegebenenfalls am Schirm modifizieren. „Das entbindet den Fachhändler von der Verpflichtung, die ganze Bandbreite vorzuhalten, was eine Menge Kapital bindet“, erläutert Borowski. Es reiche dann eine Core-Collection im Laden. „Mehr verkaufen und weniger im Lager halten – das wird einen Fachhändler ja eher freuen.“

Die Reaktionen der Juweliere auf das offerierte Nomos-Terminal seien recht unterschiedlich ausgefallen: „Das reicht von ,Igittigitt! Online?‘ bis zur Freude, mit der Zeit zu gehen. Schließlich erledigt das Terminal einen Teil der Arbeit mit.“ Die Auslieferung soll jedenfalls erst im Sommer beginnen, wenn der Markt nicht mehr so leer gefegt ist wie zurzeit. „Im Moment sagen die Fachhändler: Liefert uns keine Möbel, liefert uns Uhren!“, räumt die Nomos-Chefin ein.

Uhren-Lieferketten transparent machen

Genau da sieht auch BVJ-Präsident Lindner ein Problem: „Schwierig ist es, wenn dem Ganzen eine Modellannahme zugrunde liegt, die nicht zur realen Liefersituation mit langen Wartezeiten passt.“ Große Lager seien natürlich ein wichtiges Thema. „Aber wir können ja gut verkaufen – und wären im Moment froh, wenn Standardmodelle lieferbar wären.“

Natürlich seien aber digitale Angebote begrüßenswert, welche die Partnerschaft von Herstellern und Einzelhandel stärken. Lindner verweist auf einen Bereich, in dem sich das jetzt schon bewähre: Sehr nützlich sei der direkte Online-Zugang der Einzelhandels-Werkstätten zum Lager des Herstellers, den einige Marken inzwischen eingerichtet haben – darunter auch Nomos, Junghans und die Swatch Group. „So können wir ganz unkompliziert bestellen – ob Werksersatzteile oder Lederbänder in einer kurzen Ausführung. Auch da ist vielleicht noch hier und da etwas optimierbar, aber das Verfahren hilft schon sehr.“

Die Lieferprobleme kann die Digitalisierung der Hersteller nicht lösen, ebenso wenig wie im Automobilsektor. Aber sie kann helfen, transparenter zu agieren.

Einen nichtdigitalisierten Einzelhändler kann sich Lindner künftig nicht mehr vorstellen. „Igittigitt! Online?“ dürfte damit Geschichte sein.

10.03.2022    Jan Lehmhaus
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