Neubaugebiet
29.10.2021    Martin Hintze
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Davon konnten frühere Generationen nur träumen: Immobiliendarlehen mit zehn Jahren Laufzeit sind seit Mitte 2019 für deutlich unter einem Prozent Zinsen zu haben. Selbst 15-jährige Kredite flirten mit der Ein-Prozent-Marke. Die Banken werfen Immobilienkäufern das Geld förmlich hinterher. Gerüchte über Negativzinsen – also dass Kunden weniger zurückzahlen, als sie aufgenommen haben – machten die Runde.

Die historisch günstigen Konditionen haben in der vergangenen Dekade zu einem veritablen Boom am deutschen Immobilienmarkt geführt. Dank der Mini-Zinsen konnten sich auch Menschen Häuser oder Wohnungen leisten, für die der Traum von den eigenen vier Wänden sonst genau das geblieben wäre – ein Traum. Das billige Geld hat gestiegene Kauf­preise in einigen Regionen austariert, sodass die Erschwinglichkeit sich unterm Strich kaum verändert, teils gar erhöht hat. Auf der anderen Seite verbuchen die vom Niedrigzins­umfeld arg gebeutelten Banken und Sparkassen Rekordgewinne in der Baufinanzierung. Allein in den ersten vier Monaten 2021 betrug das Neugeschäft nach Angaben des Beratungshauses PwC 100 Milli­arden Euro. Seit 2015 stiegen die Netto­zinserträge der Geldhäuser um 50 Prozent auf 15 Milliarden Euro im Jahr. Nicht nur für Immobilienkäufer, sondern auch für Wissenschaft, Politik und nicht zuletzt die Finanz­industrie stellt sich aktuell daher eine zentrale Frage: Wann ist die Ära des billigen Baugelds vorüber?

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„Ich denke, dass wir den Tiefpunkt durchschritten haben. Wir werden einen Zinsanstieg sehen, aber einen moderaten“, sagt Thomas Hein. Er leitet den Vertrieb der Immobilienfinanzierungen bei der ING Deutschland, einem der größten Player in der Branche. „Es gibt eine Reihe von Gründen, die für steigende Zinsen ­sprechen: die Geldpolitik in den USA, die Inflation oder die konjunkturelle Wiederbelebung nach der ­Pandemie“, fasst Tobias Just, Professor für Immobilien­wirtschaft an der Universität Regensburg und Leiter der IREBS Immobilienakademie, die Lage zusammen.

Droht der Worst Case?

Auch die Europäische Zentralbank (EZB) machte zuletzt Andeutungen, dass die ultralockere Geldpolitik bald gedrosselt wird. „EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat ein vorsichtiges Zeichen in Richtung Ende der massiven Anleihekäufe gesetzt“, sagt Mirjam Mohr, Vorständin der ING-Tochter Interhyp. „Wir gehen davon aus, dass in diesem Kontext die Zinsen beim Baugeld in einigen Monaten ansteigen werden, auch wenn der Anstieg moderat ausfallen sollte.“

Auch langfristig spricht eine Reihe von Gründen dafür, dass sich die Nullzins-Ära dem Ende zuneigt. „Sowohl klimapolitische Impulse, Lohndruck durch Fachkräftemangel und weitere Folgen der älter werdenden Gesellschaft als auch geopolitische Entwicklungen sprechen tendenziell für höhere Inflationsraten im Lauf des Jahrzehnts. Und damit auch für höhere Kapitalmarktzinsen“, sagt Jochen Möbert, Analyst von Deutsche Bank Research. Mit dem Worst Case, einem plötzlichen Anstieg der Zinsen, rechnet er nicht:„Ein Zinsschock ist ein sehr unwahrscheinliches Szenario. Denn das hieße ja, dass die Zentralbanken die Zügel locker lassen können und die hohen Verschuldungs­niveaus in vielen Euroländern beseitigt sind.“

Fatale Schnäppchenjagd

Doch auch den viel zitierten „moderaten Anstieg“ dürfen Käufer nicht unterschätzen. „Für eine Anschlussfinanzierung sollte man Zinsänderungen auf jeden Fall berücksichtigen“, sagt Just. Ein Beispiel: Wer heute ein zehnjähriges Darlehen über 250.000 Euro zu einem Prozent Sollzins bekommt, zahlt eine monat­liche Rate (bei drei Prozent Tilgung plus Zinsen) von 833,33 Euro. Sollte nach zehn Jahren der Zins auf 2,5 Prozent gestiegen sein, beträgt die neue Rate 1.145,83 Euro – also knapp ein Drittel mehr. Steigt der Sollzins auf fünf Prozent, wird glatt das Doppelte fällig.

„Käufer sollten sich immer fragen, wie viel zusätzliche Anschlussfinanzierung sie tragen können“, sagt Just. Menschen mit überschaubarem Budget sollten lieber länger planen und nicht um den letzten Basispunkt kämpfen, wenn sie dafür die Laufzeit verringern müssen, so der Experte. Auch ING-Mann Hein rät von der Schnäppchenjagd dringend ab: „Viel entscheidender ist, ob das Produkt individuell passt, etwa zu den Einkommenserwartungen.“ Fakt ist: Käufer setzen auf langfristige Zinsbindungen, um sich die Traumkonditionen von heute zu sichern. „Bislang hatten wir maximal Laufzeiten von 20 Jahren im Angebot. Seit Kurzem testen wir sogar 30-jährige Darlehen im Markt“, berichtet Hein. Zudem seien Lösungen mit hoher Flexibilität, etwa der Option von Sondertilgungen oder variablen Tilgung, gefragt.

Baukosten stark gestiegen

Steigende Zinsen sind jedoch bei Weitem nicht der einzige Einflussfaktor, den Bauherren in Betracht ­ziehen sollten. Da wären beispielsweise die Baukosten. In der vergangenen Dekade sind sie um knapp 30 Prozent gestiegen, auch weil Materialien wie Stahl und Holz teurer geworden und Handwerker kaum noch zu bekommen sind. „Dass die Kosten durch gestörte Lieferketten und lange Wartezeiten gestiegen sind, ist momentan Thema Nummer eins in der Baufinanzierungsberatung. Das dürfte auch noch eine Weile so bleiben“, sagt Hein. Zudem sind die Grundstücks­preise durch die Decke gegangen. Ein Quadratmeter Bauland kostet heute im Schnitt doppelt so viel wie 2010. Und nicht zuletzt dürften strengere Klimaschutzvorgaben zu weiteren Kostensteigerungen beitragen. Wie stark diese ausfallen, hängt von den konkreten Plänen der neuen Bundesregierung ab. Was bereits jetzt feststeht: Einfacher als in der Vergangenheit wird der Traum vom Eigenheim nicht zu erfüllen sein.

Flexibilität siegt

Wie findet man sein Traumhaus? Worauf kommt es bei der Finanzierung an? Ein Fallbeispiel aus dem Hamburger Stadtteil Blankenese.

Eines war für Christian Brückert* schon immer klar: Für seine fünfköpfige Familie soll es eine eigene Immobilie sein. Frei stehend, Einfamilienhaus, mit Garten, in dem sich die Kinder austoben können. „So bin ich aufgewachsen. Hätte ich mir das in Deutschland nicht leisten können, wäre ich vielleicht ausgewandert“, sagt Brückert. 

Mit seinem Wunsch ist der IT-Experte nicht allein. In der Coronapandemie hat sich bei vielen die Sehnsucht nach den eigenen vier Wänden noch verstärkt. Eine Auswertung der Anfragen auf Verkaufsinserate des Portals Immoscout24 zeigt einen Anstieg um 70 Prozent in einigen Regionen. 

Ein weiteres Must-have für Brückert: Das Haus soll in seinem Wunschviertel Hamburg-Blankenese liegen. Kein einfaches Unterfangen: „In meiner Preisklasse gibt es dort nicht so viele Objekte.“ So willigte er am Ende in den Wunschpreis der Verkäufer ein – und dann musste es schnell gehen. Für eine Finanzierungszusage holte er zwei Angebote ein. Zugegriffen hat Brückert bei der ING. „Ich habe den Zinssatz erhalten, der mir auch auf der Website gezeigt wurde. Das sind keine Schaufensterangebote, bei denen es am Ende immer teurer wird.“ Neben dem günstigen Zins sei für ihn auch die Möglichkeit ausschlaggebend gewesen, bei der Tilgung zwischen einem und zehn Prozent mit einem zusätzlichen Sondertilgungsrecht von fünf Prozent frei wählen zu können. Dass Käufer unter Zeitdruck stehen, gehört für ING-Berater Stefan Wolff zum Alltag: „Besonders in den Top-Metro­polen muss es oft schnell gehen. Mitunter bringen Interessenten direkt den Geldkoffer mit.“

Doch einige Monate später hat Familie Brückert ihre Pläne für das Haus noch einmal komplett über Bord geworfen. Statt einer aufwendigen Renovierung und einem Anbau soll es nun doch ein Abriss und ein Neubau sein. Aus 180 Quadratmetern Nutzfläche sollen 400 werden – auch um den Wiederverkaufswert zu steigern. Die Finanzierung musste entsprechend aufgestockt werden. Auch das war noch flexibel gestaltbar. Geplanter Einzug nach zwölf Jahren Suche: Sommer 2022.
* Name von der Redaktion geändert

29.10.2021    Martin Hintze
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